Warum verstärkt die Corona-Krise gesellschaftliche Bruchlinien und wie wichtig ist den ÖsterreicherInnen Wissenschaft? Im Interview mit SOCIETY gibt der führende Biologe und Verhaltensforscher Univ. Prof. Mag. Dr. Kurt Kotrschal Antworten auf vielschichtige Fragen.
2020 haben Sie das Buch „Sind wir Menschen noch zu retten?“ veröffentlicht. Darin schreiben Sie, dass nur „eine liberale Demokratie mit breiter Partizipation, Gleichstellung der Geschlechter und starker Gemeinwohlorientierung in der Lage ist, das Überleben des Menschen und des Planeten“ zu gewährleisten. Kann dieses Ideal überhaupt erreicht werden?
Ich habe dieses Buch geschrieben, um zu diskutieren, welche Politik-, Gesellschafts- und Regierungsform am menschengerechtesten ist und am ehesten gewährleistet, dass sich die Menschen integriert und zufrieden fühlen. Da kommt man automatisch auf so etwas wie die liberale Demokratie. In der Realität erleben wir aber gerade ganz andere Entwicklungen – momentan kann man nur einen erschreckend geringen Teil jener Staaten, die sich als Demokratien bezeichnen, auch tatsächlich als demokratisch betrachten. Wenn aber die Problematiken der Klima- und Biodiversitätskrise oder weiterer Pandemien gelöst werden sollen, muss man sich zuerst dieser politischen Krise annehmen.
Ein Grund für die Entwicklung hin zu populistischen Demokratien ist, dass der Mittelstand über die letzten Jahrzehnte mehr oder weniger vernichtet wurde. Seit ca. 15 Jahren bleiben dort die Einkommen beinahe gleich und die Einkommensunterschiede weltweit vergrößern sich immer weiter. Das führt dazu, dass sich ein Teil der Bevölkerung abgehängt fühlt und das sind unter anderen dann jene Leute, die auf PEGIDA- oder Corona-Demonstrationen gehen, jene die das Capitol stürmen oder die in Holland auf der Straße randalieren – diese Menschen bringen so zum Ausdruck, dass sie kein Vertrauen mehr in den Staat haben, sie koppeln sich ab und wählen dann häufig Populisten, die ihre Gefühle bedienen. Will man an diesen Entwicklungen etwas ändern, müssen diese Leute wieder ins Boot geholt werden.
Vieles hängt aber auch mit Bildung zusammen: Zum Funktionieren einer liberalen Demokratie gehört ein gutes Bildungssystem und eben das Vertrauen zwischen den gewählten Regierenden und den Regierten. Das funktioniert zum Beispiel in Finnland hervorragend, dort kommt man seit Beginn der Corona-Pandemie mit Empfehlungen aus und die Leute halten sich daran.
Man kann sich schwer vorstellen, dass bei uns Empfehlungen alleine funktionieren würden.
Ja, wenn bei uns neue Regeln geltend werden, wird erst einmal überlegt, wie man diese nun am besten umgehen kann.
Verschärft die Covid-19 Krise gesellschaftliche/politische Problematiken noch weiter?
Wir sehen gerade, dass sämtliche Bruchlinien durch Covid-19 verstärkt werden. Zum Beispiel wird sichtbar, dass manche Strukturen in den staatlichen Verwaltungen nicht ideal sind, dass Staaten mit einem höheren Digitalisierungsgrad momentan besser durch die Krise kommen oder dass die Leute am unteren Ende der Einkommensskala am meisten unter der Krise leiden. Es herrscht zudem ein Ungleichgewicht zwischen Realwirtschaft und Finanzwirtschaft. Heutzutage werden die großen Einkommen mit der Finanzwirtschaft gemacht, eigentlich auf einem virtuellen Spielfeld, während die real produzierende Wirtschaft wesentlich weniger einnimmt. Das hat sich alles sehr stark verschoben und das ist mitunter ein Grund für die politische Krise. Die Covid-Pandemie hat das alles noch sichtbarer gemacht.
Welche wesentlichen positiven Veränderungen im Verhalten der Menschen haben Sie im Zusammenhang mit der aktuellen Krise beobachtet?
Offensichtlich ist, dass diese Herausforderungen unterschiedliche Menschen unterschiedlich treffen und jeder einen anderen Zugang hat. Die Wirkung von Covid-19 auf die Gesellschaft gibt es nicht. Positiv ist in jedem Fall, dass viele Menschen durch die Krise eine viel höhere Medienkompetenz erlangt haben. Ich und die meisten meiner Kollegen wussten zum Beispiel vor einem Jahr noch nicht, wie wir Fernvorlesungen halten können, jetzt sind wir alle Experten. Das hat uns auch gezeigt, dass man nicht zu jeder Besprechung mit dem Auto fahren muss und man auch in Zukunft viel elektronisch machen kann. Vielen Menschen ist außerdem bewusst geworden, wie wenig man zum Leben braucht – das dürfte zwar der Wirtschaft weniger gefallen, dem Klima aber allemal.
Auffällig ist auch die durch die Krise bestärkte Beziehung der Leute zu Tieren und der Natur. Ich habe noch nie so viele junge Leute draußen auf den Weinbergen rund um Wien gesehen. Die Nachfrage nach Schrebergärten und Häusern am Land, sowie der Absatz von Bioprodukten ist gestiegen – es gibt also durchaus auch zahlreiche positive Änderungen des Lebensstils, die Frage ist nun, wie lange diese halten werden.
Wie lange dauert es, tradierte Verhaltensnormen zu verändern?
Verhaltensnormen sind immer Gesellschaftsnormen aber es gibt auch Grundnormen, auf die sich vermutlich die Mehrheit der Menschen weltweit einigen kann. Ob man sich aber beim Grüßen die Hand gibt oder nicht, das ist eine rein gesellschaftliche Norm und dahingehend könnte es schon längerfristige Veränderungen geben. Menschliches Sozialverhalten hängt immer von den Randbedingungen ab und Menschen sind unglaublich flexibel, es wird also auch sehr stark davon abhängen, wie Politik und Gesellschaft aus dieser Krise hervorgehen.
In einem Interview mit der Wiener Zeitung aus dem Jahr 2013 haben Sie einmal gesagt, dass Österreich an letzter Stelle liegt, was das Interesse an Wissenschaft betrifft. Hat sich da in den letzten acht Jahren etwas geändert?
Daran hat sich nicht sehr viel geändert. Es gibt zwar schon einige Leute, die sich für Wissenschaft interessieren, aber das Grundgefühl in der Bevölkerung, dass Wissenschaft für das tägliche Leben wichtig ist, das ist weniger vorhanden. Ob die Corona-Krise daran vielleicht etwas geändert hat, das werden wir sehen. Politische Entscheidungen werden ja nun täglich auf Basis von Empfehlungen von WissenschaftlerInnen getroffen und vielleicht nimmt man deshalb jetzt die Wissenschaft etwas ernster. Interessant ist, dass obwohl Österreich gemeinsam mit Griechenland in den Eurobarometerumfragen zum Wissenschaftsinteresse stets die hinteren Ränge belegt, wir beim Interesse an Tierschutz an vorderster Stelle sind. Die Österreicher sind also Tierschützer aber Wissenschaftsmuffel.
Wie ist es dann um den Wissenschaftsstandort Österreich bestellt? Gibt es eine gute Infrastruktur für ForscherInnen?
Das ist etwas durchwachsen, wir haben zum Beispiel hervorragende Arbeitsgruppen an den Unis und im halb- bzw. außeruniversitären Bereich, die Finanzierung ist aber eher mittelmäßig. Das Interessante ist, dass man trotz einer nur mittelmäßigen Finanzierung für die Grundlagenforschung in manchen Bereichen wirklich international top ist. Dennoch bräuchten auch die Unis etwas mehr Unterstützung. Unser großes Problem dort sind die schlechten Betreuungsverhältnisse, es gibt viel zu viele Studierende pro Professor. Ein Spezifikum Österreichs ist, dass wir unglaublich viel (ähnlich wie Schweden) in Research und Development – also Forschung im weitesten Sinne – investieren, aber wenig von diesem Geld landet in der Top-Grundlagenforschung. Die guten Leute hätten wir, die müssten aber bessere Bedingungen vorfinden und man müsste mehr Geld umschichten – sehr viel von diesem Research and Development Geld ist indirekt eine Wirtschaftsförderung, das muss man offen sagen. Außerdem wird viel zu viel Geld freihändig an Institutionen gegeben, ohne diesen einer Qualitätskontrolle zu unterziehen. Das große Problem Österreichs ist die Effizienz des Mitteleinsatzes in der österreichischen Wissenschaft und auch in der Bildung. Wir haben eines der teuersten Schulsysteme, von den Ergebnissen her sind wir aber bestenfalls Mittelmaß und so ähnlich ist es in der Wissenschaft auch. Da wäre einiges zu tun, das kostet nicht mehr Geld, man müsste nur die Struktur ändern.
Dennoch legen wir in Österreich sehr großen Wert auf Titel.
Eigentlich ist ein Titel ja ein akademisches Qualitätssigel. In Österreich ist es oftmals aber so, dass die Kinder nicht studieren geschickt werden, damit sie gescheiter werden, sondern damit sie einen Titel haben. Das deutet darauf hin, dass wir nach wie vor in einer ziemlich hierarchischen Gesellschaft leben, wo der Status mehr zählt als das Können. Ein ganz direkter Ausfluss dieses Systems ist auch, dass Bildung bei uns immer noch erblich ist. Wenn man aus einer Akademikerfamilie kommt, hat man gute Chancen, wieder in derselben Schicht zu landen, wenn sie aus einer Arbeiter oder Migrantenfamilie kommen, sind ihre Chancen nicht so gut – nur etwa 10% aus diesen Milieus schaffen den sozialen Aufstieg. Und da verlieren wir den einzigen und wertvollsten Rohstoff, den wir in Österreich haben, das Humankapital.
Noch eine Frage zu einem Ihrer zentralen Forschungsbereiche – der Beziehung von Wolf und Mensch. Was verbindet uns mit dem Beutegreifer?
Es gibt kein Tier da draußen, das uns ähnlicher ist als der Wolf. Schon die altsteinzeitlichen Menschen trafen auf die Wölfe und die soziale Organisation und auch die Form der Jagd sind beinahe ident. Man blieb zusammen, aus Wölfen wurden Hunde. Seit Jahrtausenden sind sie außerdem unsere direkten Konkurrenten und deshalb auch seit jeher ein Politikum, schon bei den Altgriechen war das so. Heute ist es so, dass Menschen Wölfe entweder hassen oder lieben – so irrational wie die Beziehung von Mensch zu Wolf ist eine Mensch-Tier-Beziehung nur selten. Wir müssen uns jedenfalls wieder an das Zusammenleben mit großen Beutegreifern gewöhnen, daran führt allein schon aufgrund der Gesetzeslage kein Weg vorbei.
Buchtipp:
Mensch – Woher wir kommen, wer wir sind, wohin wir gehen – Brandstätter Verlag
Kurt Kotrschal bezieht Position. Der Mensch interessiert sich vor allem für – den Menschen. Unsere Sucht nach Sinn lässt uns seltsame Konstrukte erschaffen: zweitausend Jahre Selbstüberschätzung mit dem Ergebnis, dass wir uns ernsthaft als „Krone der Schöpfung“ wahrnehmen. Er rückt dieses Bild zurecht, indem er mit seinem unbestechlichen Blick die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Mensch und Tier vergleicht. Kotrschal gibt einen aktuellen naturwissenschaftlichen Überblick über die Verfasstheit des Menschen und zeichnet damit ein gegenwärtiges Bild unserer „Conditio humana“. Trotz aller kultureller Vielfalt teilen Menschen viele ihrer Eigenschaften, entwickeln sich aber dennoch zu unverwechselbaren Individuen. Wir sind irrationale Wesen, höchst sozial und kooperativ – und dennoch bereit zu töten. Widersprüchlich, oder? Der Verhaltensbiologe erklärt das Paradoxon: spannend und mit großem Erkenntnisgewinn. (Brandstätter Verlag)
Fotos: Brandstätter Verlag