Waris Dirie: Kompromisslose Kämpferin

Waris Dirie ist Viele. Nomadin, Menschenrechtsaktivistin, Mutter, Model, Autorin, Malerin. Somalierin und Österreicherin. Die vielleicht lauteste Stimme gegen weibliche Genitalverstümmelung und eine unermüdliche Kämpferin für Frauenrechte.

von Sarah Heftberger

Waris Diries‘ Geschichte beginnt in der somalischen Wüste, in der Region Galkayo an der Grenze zu Äthiopien, wo sie 1965 in eine Nomadenfamilie, die zum Stamm der Darod gehört, geboren wird. Sie und ihre elf Geschwister wachsen in engster Verbundenheit mit der Natur auf. Stets auf der Suche nach Wasser und Futter für ihre Tiere, verbringen sie nie länger als ein paar Wochen an einem Ort. Schon als kleines Mädchen ist sie für eine ganze Herde von Ziegen verantwortlich. “Das Nomadenleben ist hart, aber es ist in seiner engen, unauflöslichen Naturverbundenheit auch voller Schönheit“, schreibt sie in ihrem ersten Buch „Wüstenblume“ über ihr früheres Leben.

Diese enge Verbindung mit der Natur prägt sie bis heute und findet seit einiger Zeit auch in ihrer Malerei Ausdruck. „Die Farben meiner Bilder repräsentieren das Licht Afrikas und die Natur allgemein. Die Natur ist meine Inspiration. Ich folge ihr und wenn ich das mache, lande ich am Ende immer in einem Paradies, in dem ich für immer bleiben möchte“, erklärt sie in einem Interview mit einem russischen Kunstmagazin. Die Kunst – das wissen hierzulande nur wenige – begleitet die 58-jährige nun schon seit einigen Jahren.

„Ich wusste immer, dass ich malen würde. Am Anfang war ich ängstlich und unsicher. Ich hatte nie eine Lehre, einen Kurs oder eine Ausbildung absolviert. Ich wusste nicht, wie man malt, wie man mit den Materialien umgeht, ich hatte nie einen Pinsel in der Hand. Alles, was ich bin, alles, was mich weiterbringt, hat mich das Leben gelehrt. Das Leben ist meine Universität. Ich wusste nur, dass ich bereit war, zu lernen, und so habe ich es mir selbst beigebracht. Ich wollte sehen, was ich schaffen kann. Ich wollte nicht zu einem Lehrer oder Künstler gehen. Ich wollte es selbst tun, so wie ich es mein ganzes Leben lang gemacht habe“, so Dirie weiter über ihre Leidenschaft.

Unerschütterliche Aktivistin

Vor allem bekannt ist die zweifache Mutter aber für ihren Kampf gegen FGM, der „Female Genital Mutilation“ bzw. der weiblichen Genitalverstümmelung, bei der die äußeren Genitalien der Mädchen oder Frauen teilweise oder gar vollständig – in der Regel ohne Betäubung und mit Rasierklingen oder Messern – entfernt werden.

Als sie 1997 – am Höhepunkt ihrer Modelkarriere – in einem Interview mit der französischen Frauenzeitschrift Marie Claire erstmals über ihre eigene Beschneidung im Alter von nur 5 Jahren spricht, bricht sie damit ein Tabu. Noch nie zuvor hatte jemand öffentlich über dieses grausame Ritual gesprochen.

„Als ich das Interview für Marie Claire gab, wollte ich, dass diejenigen, die diese qualvollen Praktiken befürworten, von wenigstens einer Frau erfahren, wie das ist – denn die Frauen in meinem Land sind zum Schweigen verurteilt”, so Dirie dazu in „Wüstenblume“.

Das Gespräch löst jedenfalls ein weltweites Medienecho und eine Welle von Mitgefühl und Entrüstung aus. Kurz darauf melden sich die Vereinten Nationen bei ihr, wollen mit ihr zusammenarbeiten. So wird sie unter Kofi Annan zur UNO-Sonderbotschafterin im Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung und ihr unermüdlicher Einsatz für das Recht auf Selbstbestimmung von Mädchen und Frauen beginnt.

Die Wüstenblume

Ein Jahr später erscheint ihr Buch „Wüstenblume“, das weltweit über 12 Millionen Mal verkauft und 2008 sogar verfilmt wird. Darin erzählt sie von ihrer Kindheit als Nomadentochter in der somalischen Wüste, wo sie zwischen Elefanten, Löwen, Giraffen und Zebras aufwächst und schon damals „die Aufbegehrende“ genannt wird; von der unmenschlichen Prozedur der Genitalverstümmelung, die ihr angetan wird – und von ihrer Flucht vor einer Zwangsverheiratung mit einem 60-jährigen Mann. Zu diesem Zeitpunkt ist sie gerade einmal 13 Jahre alt.

Barfuß macht sie sich damals auf in die Hauptstadt Mogadischu, wo sie einige Monate bei Verwandten verbringt, ehe sie mit ihrem Onkel – dem somalischen Botschafter in Großbritannien – als sein zukünftiges Hausmädchen nach London fliegt und dort in einer ihr völlig fremden Welt landet. Im Buch berichtet sie, dass sie die Botschaftsresidenz kaum verlassen darf, über vier Jahre lang tagtäglich von früh bis spät arbeitet – bis ihr Onkel nach Somalia zurückbeordert wird und auch sie mit ihm und seiner Familie zurückkehren soll. Da beschließt sie, abermals zu fliehen. Sie lebt auf den Straßen Londons und hält sich mit einem Job als Putzkraft in einer Fastfood-Kette über Wasser.

Dann passiert etwas, das ihr Leben für immer verändert: Sie wird von einem der größten Modefotografen dieser Zeit, Terence Donovan, entdeckt, der sie gemeinsam mit der damals noch unbekannten Naomi Campbell für den Pirelli-Kalender fotografiert. Bald reist sie zwischen Paris, Mailand, London und New York umher, erhält eine Rolle als James Bond Girl in „Der Hauch des Todes“ und wird zu einem der gefragtesten Models der Welt. 1995 dreht die BBC sogar einen Dokumentarfilm über sie – der Titel: „Eine Nomadin in New York“.

Am Höhepunkt ihrer Karriere führt sie dann das Interview mit Marie Claire: „Ich musste an die Öffentlichkeit gehen, nicht nur für mich, sondern für all die kleinen Mädchen auf der Welt, die in diesem Augenblick diese Tortur erleiden.(…) Es sind nicht Hunderte, es sind nicht Tausende, sondern Millionen von Mädchen, die damit leben müssen und daran sterben”, erklärt sie ihre Beweggründe, über dieses Thema und ihre eigene, traumatische Erfahrung zu sprechen.

FGM heute

Heute gibt es – laut einem UNICEF-Bericht – über 230 Millionen lebende Mädchen und Frauen, die eine Genitalverstümmelung erlitten haben. Die grausame Praxis breitet sich zwar global nicht weiter aus, so der Bericht, die Fortschritte im Kampf gegen FGM können aber mit dem schnellen Bevölkerungswachstum – insbesondere in den Regionen, in denen der Eingriff am häufigsten vorkommt – kaum mithalten. Konflikte und Krisen behindern und verlangsamen den Kampf gegen FGM zusätzlich. Doch es gibt auch positive Beispiele, so ist etwa in Kenia die Verbreitung der weiblichen Genitalverstümmelung, die meist unter dem Deckmantel der Tradition durchgeführt wird, von „mäßig“ auf „niedrig“ zurückgegangen, in Sierra Leone von einer „hohen“ auf eine „mäßig hohe“ und auch in Ägypten, wo vor etwa drei Jahrzehnten noch die Mehrheit der Mädchen verstümmelt wurde, werden die Zahlen niedriger. Auch die Einstellung gegenüber FGM hat sich verändert, so sind dem Bericht zufolge heute zwei Drittel der Bevölkerung in praktizierenden Ländern gegen das grausame Ritual.

Waris Dirie hat zu den positiven Entwicklungen unumstritten einen großen Beitrag geleistet. Mit ihrer 2002 in Wien gegründeten „Waris Dirie Foundation“, (seit 2010 „Desert Flower Foundation“) setzt sie sich unentwegt dafür ein, FGM für immer auszurotten. „Weibliche Genitalverstümmelung geht uns alle an. Sie ist ein Verbrechen, das unter uns in vielen Ländern dieser Welt geschieht. Mit meiner weltweiten Kampagne möchte ich darauf aufmerksam machen. Ich möchte meinen Beitrag dazu leisten, FGM endgültig weltweit zu verbannen“, so die Aktivistin.

Eine Undercover-Recherche, die Dirie gemeinsam mit einem Team von jungen europäischen und afrikanischen Journalisten Anfang der 2000er Jahre durchführt, zeigt, dass auch in Europa FGM praktiziert wird. Die Erkenntnisse dieser Untersuchung fasst sie in ihrem Buch „Schmerzenskinder“ zusammen, 2006 präsentiert sie sie außerdem vor dem Ministerrat der EU. Daraufhin werden in fast allen europäischen Ländern Gesetze gegen weibliche Genitalverstümmelung beschlossen.

Um Mädchen in afrikanischen Ländern vor der Verstümmelung zu bewahren, hat die Desert Flower Foundation außerdem Patenschaftsprojekte initiiert, im Zuge derer Verträge mit den Eltern abgeschlossen werden, die garantieren, dass die gefährdeten Mädchen unversehrt bleiben. Im Gegenzug erhält die Familie finanzielle Zuwendungen für Lebensmittel und andere wichtige Ausgaben wie Strom und Wasser. Außerdem bekommen die Mädchen die Chance, eine Schule zu besuchen, denn, so ist Dirie überzeugt: „Bildung und Einkommen für Frauen sind absolut notwendig, um FGM einzudämmen und abzuschaffen. Eine wirtschaftlich unabhängige Frau wird sich nicht so schnell dem Druck einer Gruppe fügen. Die ärmsten Länder in Afrika haben nicht nur die höchste Analphabetenrate, sondern auch die mit Abstand höchste FGM-Rate“. (Interview mit welt, 2019). Auch ihre Foundation hat aus diesem Grund bereits fünf Schulen für insgesamt 2.250 Kinder in Afrika errichtet.

Seit bald 30 Jahren kämpft Dirie nun schon gegen die weibliche Genitalverstümmelung und für ein selbstbestimmtes, freies Leben aller Mädchen und Frauen, und das, obwohl ihr Aktivismus immer auch untrennbar mit ihrer eigenen traumatischen Erfahrung verbunden ist, der sie sich dafür immer wieder stellen muss. Ihre Forderungen und Botschaften sind wohl auch deshalb so kompromisslos.

Waris, das bedeutet übersetzt Wüstenblume, und die Wüstenblume, erklärt sie in ihrem gleichnamigen Buch, „wächst in einer kargen Umgebung, wo sonst kaum etwas gedeihen kann.“ Sobald Regen fällt und die staubige Landschaft gereinigt wird, erblühen diese Blumen wie durch ein Wunder. Ein durchaus passender Name für die Menschenrechtsaktivistin, die sich seit jeher entschlossen ihren eigenen Weg durchs Leben bahnt und scheinbar furchtlos ihre Meinung kundtut.   

Zwischen zwei Welten

Heute lebt Waris Dirie mit einem ihrer zwei Söhne in Wien, hat dort ein Stück weit eine neue Heimat gefunden. „Wien ist eine wunderschöne Stadt. Ich habe hier viele neue Freunde gefunden. Ja, ich habe tatsächlich das Gefühl, endlich angekommen zu sein“, schreibt sie in „Schmerzenskinder“.

Ihre „alte“ Heimat Afrika wird sie dennoch nie loslassen. “Ich bin wirklich dankbar, dass ich beide Lebensformen kennenlernen durfte, den einfachen und den eiligen Weg. Aber ich wüsste nicht, ob ich ohne meine afrikanische Herkunft das einfache Leben genießen gelernt hätte. Meine Kindheit in Somalia hat meine Persönlichkeit geprägt und mich davor bewahrt, Banalitäten wie Erfolg und Ruhm – denen so viele Leute nachzujagen scheinen – allzu ernst zu nehmen (…). Ich weiß nur, dass meine Art zu denken afrikanisch ist, und daran wird sich nie etwas ändern”.

Desert Flower Foundation: Alle 11 Sekunden wird auf dieser Welt ein Mädchen beschnitten. Jedes dritte stirbt nach diesem brutalen Eingriff und viele leiden ihr Leben lang unter den schmerzhaften Folgen. Seit 2002 setzt sich die Desert Flower Foundation dafür ein, weltweit Frauen und Mädchen vor der Genitalverstümmelung zu retten. Jede Spende an die Desert Flower Foundation kommt Frauen und Mädchen, die von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen oder bedroht sind, auf der ganzen Welt zugute! www.desertflowerfoundation.org

Fotos: Coco de Mer/Rankin // Roman Zach Kiesling: www.romanzachkiesling.at // SONHYOIL