Henry Kissinger – ein Jahrhundertpolitiker (†)

Der ehemalige Nationale Sicherheitsberater und US-Außenminister Henry Kissinger (†) ist im Mai 2023 100 Jahre alt geworden. Kaum jemand hat die Politik des 20. Jahrhunderts so wesentlich geprägt, wie der gebürtige Deutsche – sein Wirken ist aber auch umstritten. [Anmerkung: Henry Kissinger ist nach Redaktionsschluss verstorben]

von Sarah Heftberger

Im Februar 1972 geht ein Bild um die Welt: Der US-amerikanische Präsident Richard Nixon schüttelt dem chinesischen Revolutionsführer Mao Tse-tung die Hand. Ein Moment, so einzigartig „wie die Mondlandung“, schreibt Nixon später in seinen Memoiren.

Den Grundstein für den historischen Besuch – der erste eines US-Präsidenten im kommunistischen China – legt ein Jahr zuvor der Nationale Sicherheitsberater Nixons: Henry Kissinger. Er war 1969 vom frisch gewählten Staatsoberhaupt ins Weiße Haus geholt worden, nicht zuletzt aufgrund seines hervorragenden Rufes als Experte für internationale Politik.

Die Begegnung zwischen Mao Tse-tung und Richard Nixon ist nur eines von zahlreichen historischen Ereignissen, die Kissinger im Laufe seiner Karriere mitprägt, denn seine politische Laufbahn fällt in eine weltpolitisch turbulente Zeit: Kalter Krieg, Nahostkonflikt, Vietnamkrieg, der Putsch in Chile. Die Liste ist lang.

Seine Rolle im Vietnamkrieg ist jedenfalls umstritten, und das, obwohl er es war, der 1973 gemeinsam mit dem nordvietnamesischen Chefdelegierten Le Duc Tho ein Waffenstillstands- und Abzugsabkommen ausverhandelt, für das sie sogar den Friedensnobelpreis erhalten. Nur Kissinger nimmt die Auszeichnung an, Le Duc Tho lehnt mit der Begründung ab, dass in seinem Land noch immer kein Frieden herrsche. 

Das Bild des Handschlags zwischen den beiden Verhandlern geht jedenfalls um die Welt, die Entscheidung des Nobelpreiskommittees wird jedoch heftig kritisiert. Kissinger sei schließlich mitverantwortlich gewesen für die vorherige Eskalation des Krieges, dessen Beendigung ursprünglich eines der zentralen Wahlversprechen von Präsident Nixon war.

Kritiker:innen werfen ihm außerdem vor, an den US-Geheimdienstoperationen mitgewirkt zu haben, deren Ziel es war, die sozialistische Regierung Chiles unter Salvador Allende zu stürzen. Der Militärputsch unter Führung von General Augusto Pinochet 1973 hat zwei Jahrzehnte brutale Militärdiktatur zur Folge. Überall gehen Menschen auf die Straße, um gegen die von Kissinger mitverantwortete Politik zu demonstrieren.

Diplomatische Errungenschaften

Zu den größten diplomatischen Erfolgen der Politik-Legende zählt – neben der Annäherung an China – unbestritten die Unterzeichnung des Rüstungsbegrenzungsvertrages (SALT-I-Vertrag) zwischen der Sowjetunion und den USA im Jahr 1972. Sie gilt als Krönung der von der Nixon-Kissinger Administration angestrebten Entspannungspolitik zwischen Ost und West, deren Ziel eine stabile, langfristige Koexistenz ist.

„Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sind ideologische Rivalen. Die Entspannung kann das nicht ändern. Das Atomzeitalter aber zwingt uns zur Koexistenz. […]“, erklärt Kissinger später (1982) in einem Spiegel-Beitrag die Bemühungen.

Ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte ist für den Chefdiplomaten stets von zentraler Bedeutung, dies sei, so Kissinger, die Grundlage für Stabilität, vorausgesetzt, jede Macht würde grundsätzlich die Interessen der jeweils anderen anerkennen. Diese Maxime führt er bereits 1954 in seiner Doktorarbeit über Metternich, Bismarck und Castlereagh aus. Menschenrechte spielen dabei eine untergeordnete Rolle, denn der Zweck heilige die Mittel. Die Quintessenz von Realpolitik also, deren wohl bekanntester Vertreter Kissinger ist.

Im Nahen Osten spielt er – nun in der Rolle als Außenminister – nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 eine zentrale Rolle in den Friedensbemühungen zwischen Israel und den arabischen Ländern. Mit der Genfer Nahostkonferenz initiiert er ein erstes direktes Zusammentreffen der Kontrahenten.

Nach dem Rücktritt Nixons im Zuge der Watergate-Affäre 1974 und der Übernahme des Präsidentschaftsamtes durch Gerald Ford bleibt Kissinger weiter Außenminister.

Erst mit dem Wahlverlust Fords gegen den Demokraten Jimmy Carter 1977 beendet er seine politische Karriere. Aber auch danach mischt er als Berater der Präsidenten Ronald Reagan und George Bush, später auch von Donald Trump, weiter auf der Weltbühne mit. Und auch mit 100 ist er noch immer ein scharfer Beobachter, äußert sich regelmäßig zu den internationalen Geschehnissen. Über den wiederentflammten Nahostkrieg sagt er kürzlich in einem NZZ-Interview:

„Ich hoffe, dass es am Ende zu Verhandlungen kommen wird, wie ich sie am Ende des Jom-Kippur-Krieges führen durfte. Damals war Israel im Vergleich zu den umliegenden Mächten stärker. Heute bedarf es eines größeren Engagements Amerikas, um eine Fortsetzung des Konflikts zu verhindern.“ Im Ukraine-Krieg warnt er davor, bezüglich eines Nato-Beitritts des Landes zu zögerlich zu sein und den Krieg „auf die falsche Weise zu beenden.“ Vor dem Krieg war er noch gegen eine Mitgliedschaft.

Schlaflose Nächte bereite ihm außerdem die Frage, wie man die „potenziell zerstörerischen Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz begrenzen“ könne. Seine Angst: dass das „verrückte Wettrennen“ in einer Katastrophe enden könnte. Zum Thema Künstliche Intelligenz hat Kissinger bereits 2022 ein Buch veröffentlicht. Zwei weitere – über KI und die Natur der Bündnissysteme – plant der 100-jährige noch.

Wo und wie alles begann

Heinz Alfred Kissinger wird am 27. Mai 1923 im mittelfränkischen Fürth in eine jüdische Familie geboren. Sein Vater Louis ist Lehrer, seine Mutter Paula, geborene Stern, stammt aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie. Kissinger wächst gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Walter wohlbehütet auf. Beide erhalten Klavierunterricht, gehen regelmäßig ins Nürnberger Opernhaus und verbringen ihre Ferien am prächtigen Hof der Großeltern mütterlicherseits. Kissinger besucht die Realschule, er liest gerne, am liebsten die deutschen Klassiker, von Goethe über Schiller bis hin zu Heinrich Heine. Außerdem spielt er Fußball bei der Spielvereinigung Fürth, die er bis heute verfolgt. „Ich würde sagen, das waren die glücklichsten Momente meines Lebens“, erinnert er sich im Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer SE, Mathias Döpfner, 2023 – bis Hitler an die Macht kommt und sich alles ändert. „Die ganze Atmosphäre war insgesamt sehr feindselig, überall gab es Schilder Juden sind nicht willkommen, Juden sind hier unerwünscht. So entstand eine starke Abgrenzung, in der man keine bürgerlichen deutschen Freunde hatte. Es gab in Leutershausen nur eine Familie, die uns weiterhin freundlich gesinnt war.“

Sein Vater verliert seinen Job als Lehrer, Heinz wird auf der Straße von Hitlerjungen angegriffen, darf nicht mehr Fußball spielen und gerät immer mehr ins gesellschaftliche Abseits. Irgendwann wird der Druck auf die Familie zu groß: Drei Monate vor der Reichspgrogromnacht flieht sie in die USA. Kissinger ist zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt.

Nur einen Monat nach der Ankunft in New York werden die beiden Kissinger-Brüder in der George Washington High School eingeschult. „Er war das ernsthafteste und reifste Flüchtlingskind“ erinnert sich später seine Mathematiklehrerin Anne Sindeband an den älteren der beiden Brüder. Damalige Wegbegleiter beschreiben Kissinger als zurückhaltend, gar schüchtern.

Sein großer Traum ist es jedenfalls, Amerikaner zu werden. Er lernt schnell Englisch, seinen fränkischen Dialekt behält er aber – bis heute – bei. Nach seinem High School Abschluss wird er – nicht zuletzt auf Grund seiner guten Noten – am City College New York aufgenommen. Noch bevor er sich für eine Universität entscheiden kann, wird er nach seinem 19. Geburtstag in die Armee berufen und muss im Februar 1943 New York gen North Carolina verlassen. Im darauffolgenden Monat erfüllt sich für ihn endlich sein großer Traum: er wird eingebürgert, ist nun offiziell US-Bürger.

Der Dienst in der US Army führt ihn zurück nach Deutschland, er arbeitet als Übersetzer und nach dem Ende des Krieges an der Aufklärung von Kriegsverbrechen und am Vorantreiben der Entnazifizierung. Nach „anfänglichen Gefühlen der Rache“ – viele seiner Verwandten waren von den Nazis ermordet worden – kommt er zu der Überzeugung, „dass der beste Dienst, den ich tun konnte, darin bestand, zur Versöhnung mit Deutschland beizutragen und denjenigen in Deutschland zu helfen, die positivere Ansichten hatten. Ich habe großen Respekt vor den Regierenden und Menschen, die das heutige Deutschland aufgebaut haben“. (Interview mit Mathias Döpfner 2023).

2011 Sandor Welsh Photography

Während seiner Zeit bei der Armee lernt er außerdem den Politologen und Juristen Fritz Kraemer – wie er ein deutscher Emigrant – kennen. Kraemer, der ebenfalls in der 84. US-Infanteriedivision dient, wird Kissingers‘ wohl einflussreichster Mentor.

Nach der Armeezeit studiert Henry, wie er sich nun nennt, am Harvard College Politikwissenschaft, seinen Master und seine Promotion macht er an der Harvard University, wo er später auch unterrichtet. Erste politische Erfahrung sammelt er ab 1957 als Berater des New Yorker Gouverneurs Nelson Rockefeller. Anfang der 60er Jahre wird er unter den Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson Berater für den Nationalen Sicherheitsrat, 1969 dann die Ernennung zum Nationalen Sicherheitsberater durch Präsident Nixon. Der Rest ist Geschichte – im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Beurteilung Kissingers Wirken, seiner politischen Laufbahn und der Entscheidungen, die er im Zuge dieser getroffen hat, hängt – wie so vieles – von der (politischen) Perspektive ab. Die einen sehen in ihm ein diplomatisches Genie, einen der größten Visionäre unserer Zeit, für die anderen ist er ein „Kriegstreiber“ und eiskalter Stratege.

Etwas dürfte jedenfalls unbestritten sein: Kissinger wird als einer der einflussreichsten und prägendsten Politikgestalten des 20. Jahrhunderts in die Geschichtsbücher eingehen.

Photos: Ministerstwo Spraw Zagranicznych RP // darthdowney / Flickr