Brasilien nach dem Richtungswechsel

Brasilien hat dramatische Monate hinter sich. Im größten Staat Lateinamerikas wurden eine neue Staatsspitze und ein neues Parlament gewählt. Es war nach Expertenmeinung eine der wichtigsten Wahlen in Lateinamerika seit Jahrzehnten. Die beiden spannenden Urnengänge im Oktober brachten mit der Abwahl von Präsident Jair Bolsonaro und der Wiederwahl des früheren Staatschefs Luis Inacio Lula da Silva einen Richtungswechsel.

von Hermine Schreiberhuber

Die Wahl in Brasilien hat Auswirkungen auf die ganze Welt. Darin sind sich Lateinamerika-Kenner einig. Vieles von dem, was dort geschieht, ist von globaler Bedeutung. Ob es um enorme Bodenschätze, grandiose Naturlandschaften oder bedeutende Vernetzung in der internationalen Wirtschaft geht – Brasilien nimmt weltweit einen Spitzenplatz ein. Mit dementsprechend großem Interesse verfolgten die globalen Akteure das Geschehen in dem 8,5 Millionen Quadratkilometer großen Land am Amazonas.

Zwar waren die beiden Präsidentschaftskandidaten Bolsonaro und Lula als Repräsentanten des rechten bzw. des linken Lagers in die Wahlschlacht gegangen, doch letztlich lässt sich der Wahlausgang nach Experten-Analysen nicht einfach als Linksrutsch definieren. Vielmehr sei es um eine Absage an Radikalismen, um eine Hinwendung zu liberalerem Demokratieverständnis gegangen. Nicht nur Linkskräfte, sondern auch Teile des konservativen Lagers wandten sich von der extrem rechten Politik und dem autoritären Stil ab.

Im Wahlkampf spiegelte sich eine gefährliche Polarisierung, basierend auf den großen sozialen Ungleichheiten und dem Frust weiter Teile der Bevölkerung über die vermeintliche Korruption der politischen Eliten. Die „Washington Post“ formulierte die Ausgangssituation mit den Worten: „Gewählt wird nicht eine Partei oder ein Programm, sondern eine Persönlichkeit.“ Erfahrung im Präsidentenpalast haben beide Spitzenkandidaten gesammelt: Lula 2003-10, Bolsonaro 2018-22. 

Lulas Werdegang war beeindruckend. Der aus armen Verhältnissen stammende Aktivist wurde zum Gewerkschaftsführer und zum Gründer einer Arbeiterpartei. Vor 20 Jahren, 2002, wurde er erstmals zum Präsidenten gewählt. Der Mann aus dem Volk genoss große Popularität. Lula da Silva kann verbuchen, dass er einen Wirtschaftsaufschwung schaffte und mit seiner Sozialpolitik Millionen Menschen aus der Armut holte. Die hohen Weltmarktpreise der wichtigen Exportgüter kamen ihm zugute. Dank guter Staatsgeschäfte mit Agrarprodukten und Rohstoffen konnten Schulen und Straßen gebaut werden. 

Doch die Korruption blühte auch damals. Sie ist Teil der Realität in dem riesigen Staat in all seiner Vielfalt an Menschen und Natur. Lula da Silva selbst wurde 2017 in einem Korruptionsprozess wegen Bestechlichkeit und Geldwäsche verurteilt und inhaftiert. Eineinhalb Jahre war Lula weg von der Politik. Nach einem Urteil des Obersten Gerichts wurde der Ex-Präsident jedoch 2021 entlassen – rechtzeitig, um für seine Wiederwahl zu kämpfen und wieder ins höchste Staatsamt zu gelangen.

Der scheidende Präsident Bolsonaro setzte in seiner Amtzeit Aktionen, die auch vielen Brasilianern nicht gefielen. Am US-Vorbild orientiert, verfügte er eine Liberalisierung der Waffengesetze, verfolgte eine Law-and-Order-Politik und einen neoliberalen Wirtschaftskurs, der verknüpft war mit Maßnahmen gegen Umweltpolitik und einer brutalen Abholzung des Regenwaldes Dies bedeutete eine Schädigung des Weltklimas, denn für die Welt gilt der Amazonas als „grüne Lunge“. 

Diese brutalen Eingriffe in die Natur gingen Hand in Hand mit einer Entrechtung der Indigenen-Behörden. Die indigene Bevölkerung litt unter den Eindringlingen, die ihren Lebensraum beschränkten und ihre Siedlungsgebiete für Landwirtschaft und Bergbau erschließen wollten. Vor der Stichwahl rief der Dachverband der Indigenen Völker (Apib) zur Wahl Lula da Silvas auf. Dem „Szenario der Polarisierung zwischen Demokratie und autoritärem Regime, zwischen sozialer Gerechtigkeit und Ungleichheit“ müsse Einhalt geboten werden.

Der Wahlkampf geriet zu einer Schlammschlacht. Mit üblen Beschimpfungen des jeweiligen Gegners wurde nicht gespart. Die Bolsonaro-Anhänger wussten geschickt die sozialen Medien zu nutzen. In führender Funktion trat hierbei Bolsonaros Sohn Carlos in Erscheinung, der den Informationskrieg in den sozialen Medien orchestrierte. Fake News wurden auf beiden Seiten ausgestreut. Die Stimmung war aufgeheizt, schilderten Beobachter. 

Im Besonderen wurde die Religion instrumentalisiert. Das Bolsonaro-Lager war gut bei den Evangelikalen Kirchen verankert und präsentierte den (noch) amtierenden Präsidenten als „Messias“ und „Erlöser“. Die Ehefrau Bolsonaros warb intensiv in evangelikalen Kreisen um Stimmen. Rund 30 Prozent der Brasilianer gehören Freikirchen an. Etwa 60 Prozent bekennen sich zur katholischen Kirche. Unter den Katholiken genießt Lula größere Sympathie.

Der katholische Erzbischof von Sao Paulo, Kardinal Odilo Scherer, warnte eindringlich vor der Instrumentalisierung der Religion im Wahlkampf und kritisierte die Beeinflussung der Wähler. Ausdrücklich hielt der Kirchenführer fest, dass die Kirche sich nicht einmische und offiziell keine Präferenzen für Kandidaten ausspreche. Zugleich verurteilte Scherer die politische Positionierung vieler evangelikaler Kirchen. 

Kurz vor der Stichwahl hatte die Wahlbehörde neue Richtlinien verabschiedet, um die Desinformation im Wahlkampf zu verringern. Beide Wahlkampfteams mussten diverse Botschaften und Videos löschen, die den jeweiligen Gegner verleumdeten. So wurde Lula als Satanist beschimpft. Schon 2018, beim Wahlsieg Bolsonaros, hatten über die Sozialen Netzwerke verbreitete Fake News eine wichtige Rolle gespielt.

Einen Tiefpunkt bildete der TV-Schlagabtausch Bolsonaros und Lulas vor der Stichwahl. Der Herausforderer beschuldigte den Amtsinhaber, wegen der Unterschätzung der COVID-Pandemie den Tod von 600.000 Brasilianern verschuldet zu haben. Bolsonaro wiederum bezeichnete Lula als „nationale Schande“ und warf ihm Korruption vor. Die Probleme des Landes wurden hingegen im ganzen Wahlkampf kaum thematisiert. Auf dringende Fragen gab es keine Antworten.

Die Wahlen waren eine Zitterpartie bis zuletzt. Schließlich gewann Lula da Silva vom Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei) mit einem knappen Vorsprung (50,9 Prozent) vor Bolsonaro vom Partido Liberal. Der Wahltag selbst verlief ruhig, doch dann wurden LKW-Blockaden im ganzen Land errichtet, zum Zeichen des Protests gegen die Bolsonaro-Niederlage. Der Wahlverlierer selbst zog sich in Schweigen zurück. Die Sicherheitskräfte schritten nicht gegen die Straßenproteste ein. Seitens der Wirtschaft wurde sehr wohl protestiert. 

Putschgerüchte keimten zeitweise auf. Erst etliche Tage nach der Stichwahl signalisierte Bolsonaro seine Bereitschaft zu einer reibungslosen Übergabe der Amtsgeschäfte an den Wahlsieger. Lula machte in einem geschickten Schachzug Geraldo Alckmin zu seinem designierten Vizepräsidenten. Alckmin von der als konservativ geltenden Sozialdemokratischen Partei (PSDB) verhandelte im Auftrag Lulas mit Bolsonaro. Dieser rief nun auch zur Auflösung der Straßenblockaden auf.

Inzwischen bekannte sich auch das Militär zu seiner „Verpflichtung zur Demokratie“ und wies zugleich die Aufforderung von Bolsonaro-Anhängern zu einem Eingreifen zurück. In einer gemeinsamen Erklärung von Marine, Heer und Luftwaffen wurde das in der Verfassung garantierte Demonstrationsrecht betont, zugleich wurden Exzesse bei Protesten verurteilt. Die Amtsübergabe soll am 1. Jänner 2023 erfolgen.

Auch Teile der bisherigen Anhängerschaft Bolsonaros haben inzwischen die neue Realität offiziell akzeptiert. Der ehemalige Bundesrichter Sergio Moro, der Lula einst verurteilt hatte und jetzt im Senat sitzt, bekannte sich zu der neuen Sachlage. Unter den Politikern aus dem Bolsonaro-Kreis, die sich an Lula angenähert haben, ist auch ein Evangelikalen-Führer.

Bei den Kongress-Wahlen erzielten wirtschaftsliberale, konservative und rechts orientierte Parteien Erfolge. Im Abgeordnetenhaus stellt die Partei Bolsonaros (PT) 98 Abgeordnete, der von Lulas Arbeiterpartei gegründete linksliberale Block 68 Abgeordnete. Der Mitte-Rechts-Block geht inzwischen auf Lula zu. Der Kongress-Präsident betonte, es sei an der Zeit, Brücken zu bauen. Gewählt wurden neben den Mitgliedern von Senat und Abgeordnetenhaus auch die Gouverneure und Parlamente der Bundesstaaten. 

Der Wahlausgang in Brasilien wurde in weiten Teilen der Welt, vor allem im Westen, mit Erleichterung aufgenommen. US-Präsident Joe Biden drückte seine Zufriedenheit aus. Nach den Worten des französischen Präsidenten Emmanuel Macron sei „eine neue Seite in der Geschichte Brasiliens aufgeschlagen“ worden. In einer deutschen Stellungnahme wurde der Erfolg für Demokratie und Klima unterstrichen. Auch der Kreml äußerte sich positiv.

In seiner neuen Amtszeit steht Lula vor großen Herausforderungen. Teilweise mit rechten Mehrheiten im Parlament konfrontiert, gab er das Versprechen ab, das Land wieder zu einen. Sein Credo: „Es gibt keine zwei Brasilien. Wir sind ein Staat, ein Volk, eine große Nation“. Doch bei seinem Comeback wird er weniger Spielraum haben und bei der Wahl seines Teams Kompromisse eingehen müssen. Mit der Nominierung seines Chefverhandlers und Vizes Alckmin hat Lula bereits einen Schritt in diese Richtung getan.

Mitten in einer Wirtschaftsmisere muss Lula Schritte in Richtung soziale Versöhnung setzen. Eine Mammutaufgabe. 30 bis 40 Prozent der Brasilianer leben heute in tiefer Armut. Sie setzen Erwartungen in den ehemaligen engagierten Gewerkschafter. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, ebenfalls die Inflation. Die Kriminalität stieg an. Auch für die brasilianische Wirtschaft ist Nachhaltigkeit ein wichtiges Argument. Für die Zukunft gilt, der Abholzung im Amazonas Einhalt zu gebieten und den Klimaschutz zu respektieren. Auch hier könnte Lula bei bisherigen Bolsonaro-Verfechtern punkten.

(c)Marcelo Camargo Agencia Brasil, Casa de America, Flickr