Armenologin aus Leidenschaft

Jasmine Dum-Tragut, Leiterin Armenische Studien an der Paris Lodron Universität Salzburg ist die einzige Armenologin Österreichs. SOCIETY hat sie zum Gespräch über ihre Motivation, Projekte und Einschätzungen gebeten.

Sie sind Leiterin der Abteilung Armenische Studien an der Paris Lodron Universität Salzburg. Wo liegen Ihre Forschungsschwerpunkte?

Meine armenischen Studien in Salzburg sind für zwei Dinge weltweit bekannt: zum einen sind sie höchst interdisziplinär, kreativ und innovativ und zum anderen sehr holistisch angelegt. Ich versuche immer, ein Thema aus den verschiedensten Blickwinkeln zu behandeln und dabei niemals die lokale Bevölkerung außer Acht zu lassen. Wichtig ist, dass meine Forschung in Armenien stattfindet, ich bin also eine „Fieldwork-Armenologin“.

Als promovierte Linguistin und Slawistin ist ein Teil meiner Forschung sprachwissenschaftlichen Analysen der armenischen Sprache und deren Varietäten gewidmet. Dadurch, dass ich auch in Armenien studiert habe (1988-1990) und meine Habilitation (übrigens als einzige in Österreich) aus Linguistik und Armenologie ist, sind es armenologische Themen und Fragen, die ich behandle: was macht einen Armenier zum Armenier? Welche ethnischen Merkmale bilden die ethnisch-armenische Identität? Zum anderen sind viele meiner Themen sozio-historisch oder kulturell. Eines meiner bereits abgeschlossenen Forschungsprojekte beschäftigte sich mit dem Archiv des österreichischen Anthropologen Rudolf Pöch, der im Verlauf des Ersten Weltkriegs tausende russische Kriegsgefangene anthropologisch vermaß, fotografierte, befragte und aufnahm. Darunter waren auch ca. 200 Armenier. Deren Spuren habe ich in ihre Heimatdörfer in Armenien zurückverfolgt und versucht, ihre Geschichten zu beschreiben.

Ein weiterer Schwerpunkt sind theologisch-religionswissenschaftliche Studien zum armenischen Christentum, hier habe ich konkret zum armenischen Mönchstum und vor allem zu Nonnenklöster im 17. Jahrhundert in Südarmenien geforscht.

Der wohl ungewöhnlichste Forschungsbereich ist die armenische Pferdemedizin- und Zucht. Auch das hat mit mir zu tun, denn ich habe an der Wiener Veterinärmedizinischen Universität ein Studium der Pferdewissenschaften absolviert und habe auch selbst ein Pferd.

Seit dem Karabachkrieg 2020 beschäftige ich mich zudem mit der Frage des armenischen Kulturerbes in Karabach und dessen aktiven Schutz. Dabei geht es um Forschungsprojekte in den grenznahen Dörfern aber auch um Bemühungen der Professionalisierung des Kulturgüterschutzes mit Hilfe der österreichischen Experten von Blue Shield Österreich und der Masterlehrgangs für Kulturgüterschutz der Donau-Universität Krems. Seit 2021 fungiere ich außerdem als wissenschaftliche Beraterin und Mitarbeiterin im Büro für Fragen des kulturell-geistlichen Kulturerbes von Karabach des armenischen Kirchenzentrums.

Zu diesem Bereich gehört auch meine Forschung zu verlassenen Dörfern in Südarmenien. Dort werden die bestehenden Kulturdenkmäler erfasst und mit den Narrativen der Bevölkerung in Bezug gesetzt.

Was fasziniert Sie an Armenien bzw. an der Geschichte des Landes? Und wann bzw. wie hat ihre Liebe zu diesem Land begonnen?

Ich bin seit 1988 in Armenien und das Land ist mir in den letzten Jahrzehnten zur zweiten Heimat geworden. Armenologin ist nicht nur mein Beruf sondern eine Berufung. Eine derartige Wissenschaft ganz allein in Österreich zu betreiben und sie gleichzeitig zu etablieren war und ist ein Kampf, der neben wissenschaftlicher Kompetenz vor allem Enthusiasmus, Opferbereitschaft und Herzblut erfordert. Armenische Studien sind für mich Wissenschaft, Mission und Leidenschaft zugleich.

Das Land hat mich von Anfang an vor allem durch seine Menschen gefesselt, die so offen, herzlich und gastfreundlich sind. Ich war außerdem bei großen historischen Ereignissen, z.B. zu Beginn der Karabach-Bewegung, bei der Auflösung der Sowjetunion und beim schrecklichen Erdbeben 1988 vor Ort und das hat mich mit den Menschen dort zusammengeschweißt. Auch die wunderbare Landschaft verknüpft mit der eigenständigen christlichen Kultur und Kunst fasziniert mich. Und natürlich die Sprache, die eigentlich am Beginn meiner „Reisen“ nach Armenien stand: denn im Jahr 1987 beantragte ich ein Sowjetstipendium zur Erforschung der sogenannten „sowjetischen Mehrsprachigkeit“ und des Einflusses des Russischen auf die jeweiligen Nationalsprachen der Sowjetrepublik. Dass meine Wahl auf Armenien fiel, war eher zufällig. Die Entscheidung wurde aber wesentlich davon beeinflusst, dass ich von der Sprache beeindruckt war, und bereits im Rahmen meines Indogermanistik-Studiums Altarmenisch gelernt hatte.

2017 ist ein Beitrag von Ihnen mit dem Titel „Armenologie – Wissenschaft als Brückenbauer zwischen Armenien und Österreich“ erschienen. Inwiefern vermittelt Wissenschaft zwischen Armenien und Österreich? Welche Anknüpfungspunkte haben die beiden Länder?

In unseren Breiten ist sehr wenig über Armenien bekannt. Über die Wissenschaft ist es möglich, wichtige Kontakte zu knüpfen, nicht nur zwischen den großen Institutionen, sondern auch im kleineren Bereich. Ich persönlich halte es für die Entwicklung Armeniens und der jungen Generation dort für immens wichtig, Studierende und Doktoranden im Rahmen von Austauschprogrammen auch nach Österreich zu bringen. Es gäbe viele Themen, die wir gemeinsam bearbeiten könnten. Zum Beispiel die Geschichte Armeniens, die Beziehungen historischer armenischer Fürstentümer zum mittelalterlichen Europa, das armenische Christentum oder auch die gemeinsame Entwicklung von Forschungsprogrammen.

Armenien und Österreich ähneln sich schon alleine landschaftlich. Außerdem gibt es Vieles zur armenischen Geschichte Österreichs zu entdecken. Kaum jemand weiß zum Beispiel, dass das erste Kaffeehaus in Wien 1683 vom Armenier Hovhannes Diodaot eröffnet wurde, aber auch die Geschichte vom armenisch-katholischen Domherrn von St. Stephan in Wien kennen nur wenige. Kulturell gibt es viele Anknüpfungspunkte, nicht nur durch Franz Werfels Roman über den armenischen Genozid (40 Tage des Musa Dagh), sondern auch in den Bereichen der Musik und Künste.

2019 haben Sie im Genozid-Museum in Jerewan die Ergebnisse ihres Forschungsprojekts über armenische Kriegsgefangene in österreichisch-ungarischen Lagern ausgestellt. Was waren die zentralen Erkenntnisse dieser Untersuchungen?

Für mich war es wichtig, den Archivnummern aus Pöchs anthropologischem Archiv Leben einzuhauchen und herauszufinden, wer diese Männer waren und wie ihr Leben nach dem Lager aussah. Interessant ist, dass der Großteil der Kriegsgefangenen nach Armenien zurückgekehrt war und dort meist ein relativ normales Leben führte. Einige von ihnen wurden später Opfer des Stalinismus, aber es war sehr beeindruckend zu sehen, welche Kraft diese jungen Männer hatten. Ich wollte auch wissen, wie in den Familien mit der Kriegsgefangenschaft umgegangen wurde und ob die ehemaligen Gefangenen über ihre Erfahrungen in Österreich erzählten. Tatsächlich hat ein Großteil von ihnen nur eine kurze Zeit im Lager verbracht, viele wurden zum Arbeitsdienst zu Bauern geschickt und dort erging es ihnen erstaunlicherweise recht gut. Im Gedächtnis wird mir immer bleiben, als der Sohn eines ehemaligen Kriegsgefangen erzählte, dass sein Vater es ein Leben lang bereut hatte, nicht in Österreich geblieben zu sein. Ihm, dem Bauernjungen, war dort Respekt entgegengebracht worden, „die Zeit in österreichischer Gefangenschaft war die angenehmste Zeit in seinem Leben.“

Im Jänner 2023 haben die 27 Außenminister der EU-Mitgliedstaaten einstimmig beschlossen, eine EU-Mission in Armenien einzurichten – Wie schätzen Sie persönlich diesen Schritt ein?

Das war absolut notwendig, aber für mich ist noch nicht ganz nachvollziehbar, was diese zivile Mission genau tut bzw. bewirkt. Man besucht zwar die Dörfer aber man müsste viel intensiver mit den Menschen vor Ort sprechen und Zeit dort verbringen, um den Lebensalltag zu verstehen. Die bittere Erfahrung mit der Blockade des Latschiner-Korridors seit Dezember 2022, die durch eine willkürliche Errichtung einer Grenzkontrollstation durch Aserbaidschan abermals verschärft wurde, zeigt, dass die EU-Mission in diesem Grenzgebiet keine Macht hat. Meiner Meinung nach hätte die armenische Grenzregion zu Aserbaidschan von Anfang an durch eine militärische Mission der EU, UN-Friedenstruppen oder KFOR geschützt werden sollen. Die russischen Friedenssoldaten sind selbst Marionetten in diesem unglücklichen Mächtespiel im Südkaukasus.

Es herrscht in Europa derzeit eine Art Mangel an neutraler, juristisch einwandfreier und klarer Information über die brenzlige Grenzsituation zwischen Armenien und Aserbaidschan. Ich hätte dies auch als primäre Aufgabe der EU-Mission betrachtet, die bedeutenden Gremien der EU regelmäßig darüber zu informieren, was im Südkaukasus passiert.