Montenegro und die neue Führung

In Montenegro ist es Ende Mai auch formell zu einem politischen Generations­wechsel gekommen. Nach 30 Jahren in verschiedenen Funktionen an der Macht verließ Milo Djukanovic endgültig die politische Bühne. Er verlor Anfang April klar die Stichwahl um das Präsidentenamt gegen den 37-jährigen Jakov Milatovic, der 60 Prozent der Stimmen gewann. Milatovic wurde am Samstag, den 20. Mai, am Vormittag im Parlament in Podgorica vereidigt. Er will vor allem den Weg Montenegros in die EU beschleunigen, und den Reformen neue Impulse verleihen.

von Christian Wehrschütz

Amtseid von Jakov Milatovic im Parlament in Podgorica besiegelte den friedlichen Machtwechsel in Montenegro; nach totalitärer kommunistischer Vergangenheit und 30-jähriger Dominanz durch Milo Djukanovic ist dieser Wechsel durchaus als positives Zeichen für die demokratische Entwicklung des Landes zu werten. Anwesend waren bei der Amtseinführung die meisten Staats- und Regierungschefs der Region wie der Kroate Zoran Milanovic und der Serbe Alexander Vucic. Im Gegensatz zu Vucic und Djukanovic fehlt Milatovic jedenfalls bis auf weiteres die politische Hausmacht, um so dominant zu sein, obwohl er mit 60 Prozent der Stimmen gewählt wurde. Wie sieht er seine Rolle als Staatspräsident:

„Ich sehe mich auch als Korrektiv; als Person, die derzeit in Montenegro de facto das größte Vertrauen der Bürger genießt und der nach der Verfassung Montenegro im Inland und im Ausland vertritt. Ich habe auch die größte Autorität, im Namen der Bürger und Bürgerinnen zu sprechen; da geht es darum, in der Tagespolitik das Land auf einem Kurs zu halten; dieser betrifft die Beschleunigung der EU-Integration, damit Montenegro so rasch wie möglich EU-Mitglied wird. Hinzu kommen eine glaubwürdige Mitgliedschaft in der NATO, gutnachbarliche Beziehungen, ein innerer Zusammenhalt im Land, Fortschritte beim Rechtsstaat und bei Wirtschaftsreformen. Da habe ich als Präsident eine korrektive Rolle; doch darüber hinaus habe ich noch eine politische Rolle, weil ich einer von zwei Führern einer großen politischen Partei bin; sie heißt ‚Europa jetzt‘ und ist bereits ein dominierender Faktor in der Hauptstadt Podgorica und wird das mit großer Sicherheit nach der Parlamentswahl auch im montenegrinischen Parlament sein.“

Kursrichtung EU

Doch Milatovic dominiert diese Bewegung nicht, denn mit Milojko Spajic hat sie einen zweiten politischen Führer, der sehr populär ist. Welche politische Funktion Spajic nach der Parlamentswahl am 11. Juni bekleiden wird, und ob und wie die beiden zusammenarbeiten werden, wird sich zeigen. Fest steht, dass das politische System in Montenegro im Umbruch ist; und das betont auch Milatovic:

„Mit dem Sieg bei der Präsidentenwahl sind wir in eine neue Phase der demokratischen Entwicklung Montenegros eingetreten; so hat sich Milo Djukanovic als Präsident seiner eigenen Partei zurückgezogen; doch dieser große Sieg hat auch viele Prozesse bei anderen politischen Parteien ausgelöst; so hat etwa die große Bewegung ‚Demokratische Front‘ aufgehört zu bestehen. Somit geht Montenegro derzeit durch eine neue Phase seines politischen Lebens, und ich hoffe aufrichtig, dass das eine Phase wird, die durch die Mitgliedschaft in der EU abgeschlossen wird. Gerade durch dieses Hauptziel, das der größte gemeinsame Nenner der Bevölkerung Montenegros ist, sehe ich meine Funktion; das ist ein befriedetes Montenegro, das EU-Mitglied ist.“

Doch der Weg zur EU ist noch weit, fehlen doch seit Jahren grundlegende Voraussetzungen für eine erfolgreiche Justizreform. So war das Parlament bisher nicht in der Lage, den siebenten Richter des Verfassungsgerichtshofes zu wählen. Hinzu kommt, dass der Machtkampf zwischen der Regierung unter Dritan Abasovic mit Staatspräsident Milo Djukanovic auch zum Bruch der Verfassung führte. So beschloss die knappe Mehrheit von Abasovic mit einfacher Mehrheit ein Gesetz, das die Rechte des Präsidenten beschneidet, die in der Verfassung festgelegt sind. Davon betroffen ist nun auch Jakov Milatovic:

„Offensichtlich ist, dass es der bisherigen Zusammensetzung des Parlaments nicht möglich war, das siebente Mitglied des Verfassungsgerichtshofes zu wählen. Ich erwarte, dass das neue Parlament diese Aufgabe so rasch wie möglich lösen wird. Es stimmt, dass die Änderungen des Gesetzes über die Vollmachten des Präsidenten juristisch äußerst problematisch waren. Auch in diesem Fall wurde der Verfassungsgerichtshof angerufen, und ich erwarte, dass dieses Gericht diese Gesetzesänderungen für verfassungswidrig erklären wird, mit dem die Zuständigkeiten des Präsidenten auf verfassungswidrige Weise beschnitten wurden. Es ist daher sehr wichtig, dass der Verfassungsgerichtshof so rasch wie möglich darüber entscheidet.“

Seinen großen Wahlsieg Anfang April verdankt Jakov Milatovic einer breiten Koalition unterschiedlicher Parteien, die vor allem die Gegnerschaft zu Milo Djukanovic einte. Dieses politische Feindbild trat nun endgültig ab; die Lage am Westbalkan sieht Djukanovic pessimistisch:

„Leider gibt die Lage am Westbalkan keinen Anlass zu übertriebenem Optimismus. Beharrlich wiederhole ich, dass das Bild des Westbalkan schlechter ist als vor sieben, acht Jahren. Es gilt festzustellen, dass es in den vergangenen sieben, acht Jahren keinerlei Bewegung in einem der Länder des Balkans auf dem Weg Richtung EU-Beitritt gab, und zwar überhaupt keine Bewegung. Somit beeinflusste die EU mit ihrer Skepsis gegenüber einer Erweiterung das Abflauen der Begeisterung für Reformen in allen Staaten des Westbalkans. Wenn EU-Vertreter heute sagen, dass es nicht genügend Reformen am Westbalkan gibt, dann haben sie Recht; doch sie müssten auch die Verantwortung der EU anerkennen, dass es zu diesem Stillstand am Westbalkan kam.“

Skeptisch sieht Djukanovic Initiativen in der EU, mit der im Krieg stehenden Ukraine Beitrittsgespräche zu beginnen:

„Wegen der Ängste in Europa vor Russland kann man jetzt in der EU hören, dass man die Ukraine als künftiges Mitglied bevorzugen soll. Doch zuerst muss man den Krieg in der Ukraine stoppen, dann das Land erneuern, und dann muss man all das vorbereiten, was ein großes Land wie die Ukraine in einem langen Beitrittsprozess erfüllen muss, um die Standards für eine Mitgliedschaft zu erfüllen. Denn es gibt keinen Zweifel, dass nach einem Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine der Fokus Europas auf der Ukraine liegen wird, weil sie das größte Land aller ist, die beitreten wollen. Doch das darf nicht heißen, dass man auf die Verpflichtungen der EU gegenüber dem Westbalkan und darauf vergessen kann, was diese Länder bereits auf diesem Weg erreicht haben.“

Machtwechsel

Milo Djukanovic und die Medien Montenegros waren in den vergangenen Jahren nur selten einer Meinung; in seiner Abschiedspressekonferenz gab sich Djukanovic auch in dieser Beziehung versöhnlich; seine bleibenden Verdienste formulierte er so:

„Montenegro blieben Zerstörungen und menschliche Verluste während der NATO-Intervention gegen die Bundesrepublik Jugoslawien erspart. Vor 17 Jahren wurde dann auf friedliche Weise die Staatlichkeit Montenegros erneuert, das nun als wichtiger Faktor der Stabilität in der Region bekannt ist. Seit sechs Jahren ist Montenegro Mitglied der NATO und befindet sich im Vorhof der Europäischen Union.“

Abgewählt wurde Milo Djukanovic wegen seiner langen Dominanz, wegen des mangelnden Kampfes gegen die Korruption und auch wegen politischer Fehler, die er vor allem in den vergangenen drei Jahren beging. Trotzdem hat er sich bleibende Verdienste um sein Land und um die Stabilität am Balkan erworben, die auch parteipolitischer Hader nicht schmälern kann.

In Montenegro hat die vorgezogene Parlamentswahl wie erwartet eine tiefgreifende Änderung der politischen Verhältnisse gebracht; gegenüber der Parlamentswahl des Jahres 2020 gab es massive Verschiebungen, doch damit wird die Regierungsbildung nicht einfacher; stimmberechtigt waren 542.000 Montenegriner; die Wahlbeteiligung lag bei knapp 57 Prozent.

Relativer Sieger der Wahl war Milojko Spajic mit seiner Bewegung „Europa Jetzt“; erst vor zehn Monaten gegründet, wurde sie mit 23 Sitzen stärkste Kraft im Parlament mit seinen 81 Mandaten. Keine klare Aussage machte der frühere Wirtschaftsminister über mögliche Koalitionspartner:

„Am wichtigsten ist das Programm. Da müssen wir sehen, wer mit uns übereinstimmt. Dazu zählen der EU-Beitritt so rasch wie möglich, sowie Reformen der Steuern, der Pensionen und des Arbeitsmarktes.“

Klarer Verlierer der Wahl ist die Partei DPS des ehemaligen Staatspräsidenten Milo Djukanovic. Das Bündnis verlor mehr als 10 Sitze und wurde mit 21 Sitzen nur mehr zweitstärkste Kraft im Parlament, doch ein totaler Absturz blieb der DPS erspart. Mit Abstand dahinter liegen ein ultranationalistisches pro-serbisches Bündnis mit 13 Sitzen und die Koalition von Ministerpräsident Dritan Abasovic mit 11 Sitzen. Auf weitere sechs Parteien entfielen insgesamt 12 Mandate. Schwierig werden dürfte die Regierungsbildung, weil es starke politische und persönliche Animositäten zwischen Politikern und Parteien gibt.

(c) Micha Vasilijevic