„Wir alle sind Schule“

SOCIETY hat mit dem Wiener Bildungsdirektor Heinrich Himmer unter anderem über ein zukunftsfähiges Modell der Schule, Digitalisierung, und den Lehrkräftemangel gesprochen.

Als Wiener Bildungsdirektor sind Sie für die „kontinuierliche Verbesserung und Weiterentwicklung des Wiener Schulwesens“ zuständig. Sie haben dieses Amt seit 2018 inne – was waren für Sie persönlich bis dato die größten Erfolge und Herausforderungen?  

Die Pandemie war ein einschneidendes Erlebnis und ihre Auswirkung auf den Bildungsbereich enorm. Viele wesentliche Zeitpunkte des Erwachsenwerdens waren durch sie geprägt.

Aber es gibt auch einige Erfolge, von denen wir berichten können. Wir haben zum Beispiel gemeinsam mit der Wirtschaft Projekte wie das „Fliegende Klassenzimmer“ realisiert, im Rahmen dessen wir es jungen Menschen ermöglicht haben, in freistehenden Hotelzimmern, Ämtern oder Kaffeehäusern die Infrastruktur (Internet, Drucker, etc.) zu nutzen. Außerdem gab es einige Digitalisierungsinitiativen, Schüler:innen wurden etwa neue Laptops zur Verfügung gestellt, Schulgebäude ausgestattet etc. Glücklicherweise hatten wir bereits vor Ausbruch der Pandemie den „Bildungs-HUB“ installiert, mit dem man digital auf Lernmaterialien zugreifen konnte. Damit war bereits eine wichtige Basis vorhanden. Ein weiteres Projekt war die Zusammenarbeit mit dem bekannten Physiker Werner Gruber und W24, mit denen wir Bildungsfernsehen gemacht haben. Den menschlichen Kontakt konnte das aber natürlich nicht ersetzen.

Holen Sie sich für die Weiterentwicklung und Verbesserung des Schulwesens in Wien auch Inspiration aus anderen Bundesländern bzw. aus dem Ausland?

Für die Millionenstadt Wien ist es sicherlich lehrreicher, sich mit anderen internationalen Städten zu vergleichen. Deshalb kooperieren wir zum Beispiel mit Brüssel, Erfurt oder Stuttgart. Im Rahmen der Zusammenarbeit mit Brüssel, können Wiener Führungslehrkräfte am Unterricht in belgischen Schulen teilnehmen und beobachten, wie dort gearbeitet wird. Die zentralen Fragen (Sprache, Wohnsituation, Arbeiten, Infrastruktur, etc.) sind in Städten oft die gleichen und auch deshalb profitieren wir sehr von diesem wechselseitigen Austausch. Das Schulsystem darf jedenfalls nie stehen bleiben, es muss permanent daran gearbeitet werden, weil sich ja auch die Gesellschaft weiterentwickelt.

Stichwort Weiterentwicklung: Die Digitalisierung verändert stetig unser aller Leben – wie kann Schule darauf reagieren bzw. damit umgehen?

Die Pandemie war ganz klar der Wendepunkt. Wir sind jetzt ein großes Stück weiter was etwa die digitale Ausstattung betrifft. Die Stadt Wien hat beispielsweise im Mai verkündet, allen Lehrer:innen digitale Endgeräte zur Verfügung zu stellen. Wichtig ist uns, schon in den Volksschulen mit digitaler Bildung zu beginnen. Hier konnten wir zum Beispiel bereits etwa 20.000 Schüler:innen mit einem kostenfreien Programm ausstatten, das Programmierfähigkeiten aber auch das Erkennen von Fake News u.Ä. fördert. 

Man kann aber natürlich auch geräteunabhängig über Fake News lernen, logisches Denken spielt hier eine wesentliche Rolle. Uns ist es jedenfalls wichtig, dafür einen Zugang zu schaffen, der für alle gleich ist.

Um auf KI’s zurückzukommen: Wie lernen die Schüler:innen den Umgang mit Fake News und Programmen wie ChatGPT?

Man muss sich im ersten Schritt bewusst machen, dass alle Informationen aus dem Internet von jemand anderem stammen und daher eine subjektive Wahrheit dieser Person oder auch eines Konzerns sind. Als Nutzer:in muss ich selbst entscheiden, was ich wem glaube. Wenn ich etwas nicht weiß, muss ich recherchieren. Genau diese Recherchefähigkeit ist die wesentliche Basis, die auch mit jedem Unterrichtsgegenstand zu tun hat. Es muss einem bewusst sein, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt, man muss also Dinge hinterfragen, gleichzeitig aber auch wissenschaftlichen Erkenntnissen vertrauen. Vor allem geht es auch darum zu wissen, woher man Information erhalten und welchen Quellen man trauen kann. Es ist eine zentrale Aufgabe des Schulwesens, junge Menschen zu befähigen, sich in einer Welt orientieren zu können, die sich jeden Tag verändert.

(c) Bildungsdirektion/Heinz Tesarek

Wiens Bevölkerung wächst stetig – wie kann das Schulwesen hier mithalten? Und wie kann man gleichzeitig dem Pädagoginnen- und Pädagogenmangel entgegenwirken?

Der Fachkräftemangel ist eine große Herausforderung für die europäische Gesellschaft. Wir müssen hier den bisherigen Weg der Rekrutierung verlassen und Schule neu denken.

Wir sind natürlich sehr stolz auf unsere knapp 30.000 Lehrer*innen, die das Schulsystem tagtäglich tragen. Aber wir haben natürlich auch einen Bedarf an weiteren Lehrkräften. Dazu müssen wir uns über die Ausbildung Gedanken machen und noch viel mehr über den Quereinstieg. Hier braucht es vor allem Flexibilität: Das System muss sich für jene Personen öffnen, die gerne unterrichten und etwas weitergeben wollen. Diesbezüglich gab es auch schon einige Initiativen (z.B. „Klasse Job“) und eine verbesserte Bezahlung für Quereinsteiger, die es z.B. auch älteren Personen ermöglichen, zu guten Bedingungen zu unterrichten.

Das heißt also, dass die staatlichen Hürden, Lehrer:in zu werden, sinken?

Ja, allerdings nicht auf Kosten der Qualität. Lehrer:in bleibt ein Beruf, den man erlernen muss. Jede:r der/die quereinsteigt, muss auch pädagogisch geschult werden, denn zum Lehrersein gehören nicht nur das Fachwissen, sondern auch pädagogische Fähigkeiten. Diese sind und bleiben Voraussetzung, das ist mir besonders wichtig. Bildung ist aber auch eine gesellschaftliche Aufgabe – wir alle sind Schule. Jeder lehrt und lernt jeden Tag, weshalb man den Beruf definitiv auch für neue Zielgruppen öffnen kann. Der große Lehrer:innenbedarf, der u.a. einer starken Pensionierungswelle geschuldet ist, bietet aber auch die Chance darüber nachzudenken, wie die Schule der Zukunft aussehen kann damit sie Kindern und Jugendlichen die bestmöglichen Perspektiven bietet.

Laut OECD schafft in Österreich nur jede bzw. jeder Vierte einen höheren Bildungsabschluss als die Eltern – welche Problematiken verorten Sie diesbezüglich in unserem Schulsystem? 

Bildung wird immer noch viel zu oft „vererbt“. Vor allem Nachhilfe ist hier ein wesentlicher Punkt. Eltern geben oft enorme Summen dafür aus, der Bildungserfolg ist somit davon abhängig, wo bzw. wie das Kind aufwächst. Das müssen wir durchbrechen.

Wir müssen allen Schüler:innen die gleichen Chancen bieten und die individuellen Talente wecken. Dazu muss das Schulsystem integrativer gedacht werden. Wir brauchen in allen Berufssparten Menschen – siehe Arbeitskräftemangel – und wir haben für jeden Platz. Nicht nur aus rein menschlichen aber auch aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gründen dürfen wir niemanden „verlieren“, wir müssen allen ein erfülltes Leben ermöglichen und Bildung ist dafür die wesentliche Voraussetzung.

Wie geht man mit Kindern mit Migrationshintergrund um, die zum Beispiel ein sprachlich geringeres Niveau haben? Wie vermittelt man die Inhalte schneller?

Unser Ziel soll sein, dass Kinder und Jugendliche zu einem gewissen Zeitpunkt gewisse Fähigkeiten haben, dazu bräuchte es zum Beispiel meiner Meinung nach gar keine Schuljahre. Eine der zentralen Fragen ist: Wie können wir den Jugendlichen die Freude am Lernen lassen? Es ist nicht schön zu hören, dass man zu „schlecht“ oder „nicht gut genug“ ist und deshalb ein Schuljahr wiederholen muss. Das ist für mich kein zeitgemäßes Modell. Die Inhalte müssten viel mehr an die Schüler:innen und ihre unterschiedlichen Lerntempi angepasst werden. Ein Kind kann zum Beispiel in Musik schon sehr weit sein, in Deutsch aber noch Schwierigkeiten haben. Dafür braucht es dann Unterstützungsformate wie Gratis-Nachhilfe, die unabhängig vom elterlichen Einkommen zugänglich sein müssen. Wenn man etwas weniger gut kann, muss man es üben. Hier muss man die Schüler:innen abholen. Als Schule hat man auch den Auftrag sich zu überlegen, was jemand können muss. Nicht, weil es für die Schule wichtig ist, sondern für den einzelnen Menschen. Das Ziel muss sein, aus jedem und jeder das Beste rauszuholen und das darf nicht vom Geldbeutel der Eltern oder dem jeweiligen Hintergrund abhängig sein.

Lesepatinnen und Lesepaten gesucht

Sie möchten Kinder oder Jugendliche dabei unterstützen Lesen zu lernen? Die Bildungsdirektion ist laufend auf der Suche nach ehrenamtlichen Lesepat:innen, die einmal pro Woche während des Unterrichts eine Volks- oder Mittelschule besuchen und mit zwei bis höchstens vier Kindern lesen üben.

Kontakt telefonisch, Mo – Mi (8 – 12 Uhr): 0664/819 87 71 oder per E-Mail: lesepaten@bildung-wien.gv.at