Ein Philosoph im Élysée-Palast

Am Abend des 24. Aprils 2022 erklingt mit Beethovens „Ode an die Freude“ die Europahymne vor dem Eiffelturm in Paris. Emmanuel Macron wurde gerade als Präsident wiedergewählt und wird die nächsten fünf Jahre Frankreich und auch Europa maßgeblich mitgestalten.

Titelbild: Laurent Blevennec/Presidence de la Republique

Schon bei seinem ersten Wahlerfolg 2017 feiert er mit seinen Anhänger*innen im Innenhof des Louvre – auch die finale Gegnerin ist 2022 mit der Rechtspopulistin Marine Le Pen wieder die gleiche, und wie schon 2017, ist nach dem Wahlsieg Macrons ein kollektives Aufatmen Europas zu verspüren. Denn der „neue alte“ Staatspräsident ist ein bekennender Europäer, setzt auf eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland, nicht zuletzt um das europäische Projekt voranzutreiben. Er ist davon überzeugt, dass es die Aufgabe seiner Generation ist, Europa neu zu begründen, so Michaela Wiegel in ihrem Buch „Emmanuel Macron – Ein Visionär für Europa“.

Macron setzt sich jedenfalls von Beginn an hohe Ziele, will den „europäischen Traum erneuern, die Ambitionen dafür wiedererwecken“ (Spiegel Interview, Oktober 2017) – und er will Frankreich transformieren und versöhnen.

Der Schweizer Historiker, Politologe und Autor Joseph de Weck betitelt Emmanuel Macron in seinem gleichnamigen Buch nicht nur deshalb als „revolutionären Präsidenten“. Revolutionär – und unkonventionell, weil er seine eigene „Bewegung“ gegründet hat, sich dagegen verwehrt, in ein „links-rechts“-Schema hineingepresst zu werden. Macron gilt als äußerst belesen, hat Philosophie an der Universität Paris-Nanterre und Politikwissenschaft am„Institut d’études politiques de Paris“ studiert – mit Abschlussarbeiten über Machiavelli und Hegel. In seinen Reden zitiert er gerne die großen Denker, Gramsci etwa, wenn es um die „Wahrheit sagen als revolutionären Akt“ geht. Und immer wieder taucht der deutsche Philosoph Hegel, der wichtigster Vertreter des deutschen Idealismus, in seinen Reden auf. Und dann gibt es noch den großen französischen Philosophen Paul Ricœur, für den Macron als junger Mann sogar gearbeitet hat.

Werdegang

Macron stammt aus einer Ärztefamilie, wird als Emmanuel Jean-Michel Frédéric am 21. Dezember 1977 in der malerischen Provinzstadt Amiens, etwa zwei Stunden nördlich von Paris, als erster Sohn geboren. Als Zwölfjähriger und mit Eintritt in die Jesuitenschule, lässt er sich auf eigenen Wunsch taufen – ein früher Ausdruck seines starken eigenen Willens. Dort lernt er mit 15 auch seine spätere Frau Brigitte kennen, die damals als Lehrerin an der Schule arbeitet. Mit 16 gewinnt er einen öffentlichen Wettbewerb in französischer Sprache, später einen dritten Preis im Klavierspiel am Konservatorium von Amiens. Sein Baccalauréat absolviert er am renommierten Lycée Henri IV in Paris. Sie gilt als eine der anspruchsvollsten und angesehensten höheren Schulen Frankreichs. Nach Abschluss seiner beiden Studien besucht er die „École nationale d’administration“ in Straßburg und engagiert sich, wie schon in seiner Jugend in Amiens, am Theater. Obwohl er die Aufnahmeprüfung zur Verwaltungshochschule erst im zweiten Anlauf schafft, gehört er dann zu den Besten seines Jahrgangs. Erste Arbeitserfahrung sammelt er als Praktikant in der Präfektur des Départements Oise sowie an der französischen Botschaft in Abuja. Nach dem Abschluss wird ihm ein Posten in einer der drei höchsten Institutionen der Staatsverwaltung angeboten. Schließlich ist er ab 2005 in der als finanzpolitische Leitzentrale des französischen Staates geltende „Inspection générale des finances“ als Finanzdirektor beschäftigt. Mit seiner Beamtenkarriere beginnt „eine stetige Annäherung an das Zentrum politischer Macht“, wie de Weck schreibt.

Während seiner Zeit bei der „Inspection des Finances“ lernt er den langjährigen Berater François Mitterrands kennen, der ihn später dem damaligen Präsidenten François Hollande als Berater empfiehlt. Eine Tätigkeit bei der wirtschaftsliberalen Denkfabrik „Institut Montaigne“ und eine Stellung im Investmentbanking bei Rotschild & Cie in Paris folgen. Dort wird er Partner (associé-gérant), begleitet im Jahr 2012 eine der größten Übernahmen des Jahres, als Nestlé Pfizer Nutrition kauft. Noch im gleichen Jahr wird er Hollandes Berater für Wirtschafts- und Finanzpolitik, ist außerdem bis 2014 als stellvertretender Generalsekretär des Präsidialamtes im Élysée-Palast tätig. Im August des gleichen Jahres ernennt ihn Hollande zum Minister für Wirtschaft, Industrie und Digitales. Nach zwei Jahren – im August 2016 – tritt er als Minister zurück, möchte „eine neue Etappe seines politischen Kampfes beginnen“. Wenige Monate zuvor hatte er die Bewegung „En marche!“ (Vorwärts!) gegründet – weder links noch rechts, proeuropäisch, liberal, „eine progressive soziale Bewegung“, wie sie Macron selbst bei der Gründung bezeichnet. Im November 2016 gibt er dann seine Absicht bekannt, als unabhängiger Kandidat zur Präsidentschaftswahl 2017 antreten zu wollen.

Der erste Wahlsieg Macrons

Obwohl er zuvor noch nie ein Wahlmandat innehatte, gewinnt er die Stichwahl mit 66, 1 Prozent und wird mit 39 Jahren der jüngste Präsident in der Geschichte Frankreichs.

Er steht nun vor enormen Herausforderungen: das Land ist gespalten, Frankreichs Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum muss gesteigert, der Staatshaushalt und das Sozialsystem saniert werden. Die Arbeitslosigkeit im Land liegt damals bei 10,1 Prozent.

Bei seiner Ansprache am Abend seines ersten Wahlerfolges 2017 kündigt Macron an: „Ich werde die Menschen zusammenführen und versöhnen, denn ich will die Einheit unseres Volks und unseres Landes“.

Getrieben von unbändigem Fortschrittsglauben, will Macron die politische Landschaft umkrempeln und alte Strukturen überwinden. „Ich will versuchen, Frankreich und die Franzosen darin zu bestärken, sich zu verändern und weiterzuentwickeln“, so im Spiegel Interview (2017). Er gibt sich volksnahe, eine Reihe von Publizisten aber auch Wähler*innen attestieren ihm allerdings eine gewisse Unlesbar-, teils gar eine Überheblichkeit – Michel Houellegecq etwa nennt ihn einen „seltsamen Menschen“, der sich nicht entschlüsseln lasse, auch die Journalistin Anne Fulda hält ihn für „unergründlich“.

Im Spiegel-Interview entgegnet er: „Wenn ich mit Franzosen zusammen bin, bin ich nicht distanziert, denn ich gehöre ihnen. Nach meinem Verständnis gehört der französische Präsident dem französischen Volk, weil er aus ihm hervorgeht.“

Und auch jene, die ihm persönlich begegnet sind, sprechen von seiner Fähigkeit, das Gegenüber schnell für sich zu gewinnen. „Mit entwaffnender Herzlichkeit“ empfange er seine Gesprächspartner, so Wiegel in ihrem Buch. Er kenne auch keine Berührungsängste mit weniger gebildeten Menschen und beherrsche beide Rollen, die des erhabenen Staatenlenkers ebenso wie die des wohlmeinenden Landesvaters, so Wiegel weiter.

Erste Amtszeit

Seine erste Amtszeit ist von zahlreichen Krisen geprägt – Corona, Gelbwesten, Terror und der Ukrainekrieg verlangen dem achten Präsidenten der 5. Republik einiges ab.

Seine Rentenreform scheitert – wochenlang waren Franzos*innen dagegen auf die Straße gegangen. Dann brechen im November 2018 die sogenannten „Gelbwestenproteste“ (Mouvement des Gilets jaunes) aus. Zu Beginn richten sich diese zunächst vor allem gegen Macrons geplante höhere Besteuerung fossiler Kraftstoffe, später kommen weitere Forderungen hinzu, etwa die Senkung aller Steuern, die Anhebung des Mindestlohnes und der Renten. Macron reagiert schließlich – er ruft eine Grand Débat National aus, im Zuge derer er sich u.a. mit 600 Bürgermeister*innen trifft. Außerdem kündigt er vier konkrete Maßnahmen an: eine staatliche Subvention des Mindestlohns von bis zu 100 Euro im Monat; Steuer- und Abgabenbefreiung von Überstundenvergütungen; Entlastung von Rentnern mit einem Monatseinkommen unter 2000 Euro; eine abgabenfreie, freiwillige Prämie der Arbeitgeber für Arbeitnehmer zum Jahresende. Die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die er gleich zu Beginn seiner Amtszeit abschafft, lehnt er jedoch ab.

Im Jahr 2021 wächst Frankreichs Wirtschaft um 7 Prozent, zwischen Ende 2017 und Ende 2021 werden außerdem eine Million neue Jobs geschaffen – ein 15-Jahres-Tief der Arbeitslosigkeit war die Folge. Ebenso wird die Ausbildung junger Menschen reformiert. Macron senkt die Belastungen für Unternehmen – das Land gewinnt unter ihm an Wettbewerbsfähigkeit zurück, wird wieder attraktiver für Investitionen. Den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie wirkt Macrons Regierung mit mehr als 240 Milliarden Euro – Kurzarbeitergeld und weitere Zuschüsse – entgegen. Gleichzeitig steigt die Staatsverschuldung aber auf 116 % (von 98% vor der Krise).

Im Zuge des Ukraine-Krieges avanciert er zum europäischen Chefvermittler, ist einer der wenigen westlichen Staatschefs, die – vor allem zu Beginn des Krieges – noch regelmäßig mit Putin in Kontakt stehen. Für seine zweite Amtszeit versichert er, er wolle aktiv an der Wiederherstellung der Souveränität und der territorialen Integrität der Ukraine arbeiten.

Eine zweite Amtszeit

Am Ende des Wahlkampfes 2022 wird es dann für den amtierenden Präsidenten enger, als von vielen erwartet. Die Stichwahl gewinnt er dennoch mit 58, 55 % (Le Pen erreicht 41, 45%). Nun warten fünf weitere Jahre als Präsident der Grande Nation auf ihn – und zahlreiche Herausforderungen: Corona, ein Krieg in Europa, die Klimakrise, Extremismus, ein Spalt, der durch die Gesellschaft geht  – Macron muss sich auf gleich mehreren Bereichen beweisen.

Bei seiner Ansprache am Abend des Wahltages beteuert er jedenfalls, er sei der Präsident aller und gelobt, dass „niemand am Wegesrand vergessen werden wird“.

Die Franzosen fordert er auf, „wohlwollend und respektvoll zu sein“, um die tiefen Zweifel und die Spaltung des Landes überwinden zu können. Den Willen und den Fortschrittsglauben, um etwas zu verändern, hat der Präsident in jedem Fall, ob er damit die Franzosen überzeugen und wie viel von seinen ambitionierten Plänen er tatsächlich umsetzen kann, wird sich zeigen.

Emmanuel Macron – Der revolutionäre Präsident von Joseph de Weck / Weltkiosk

Emmanuel Macron – Ein Visionär für Europa – Eine Herausforderung für Deutschland von Michaela Wiegel/ Europa Pocket