Das Diplomatic SOCIETY Magazin hat den ersten EU-Kommissar Österreichs und ehemaligen Landwirtschaftsminister Dr. Franz Fischler getroffen, um 30 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs Revue passieren zu lassen und über aktuelle Herausforderungen zu sprechen.
Zwischen 1995 und 2004 waren Sie Österreichs erster EU-Kommissar und für Landwirtschaft, Entwicklung des ländlichen Raumes und Fischerei zuständig – wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?
Ich muss hier etwas weiter ausholen – denn davor, zwischen 1989 und 1994, war ich Landwirtschaftsminister und in diese Zeit fielen die EU-Beitrittsgespräche. Etwa ein Monat nach meiner Angelobung 1989 wurde der berühmte „Brief nach Brüssel“ geschickt, mit dem der Antrag auf Mitgliedschaft gestellt wurde. Das war der Start für die EU-Vorbereitung. Gerade in der Landwirtschaft war sehr viel zu tun. Die österreichischen Gesetze und Marktordnungen passten überhaupt nicht mit den einschlägigen EU-Verordnungen zusammen. Wir haben daher versucht, schon vor unserem Beitritt einiges zu verändern um dann schneller in der EU fußfassen zu können. Vor der Mitgliedschaft konnte Österreich praktisch keine Lebensmittel oder Agrarprodukte in die EU exportieren. Jetzt ist es mittlerweile so, dass Österreich aus dem Export von Lebensmitteln und Agrarprodukten in die EU mehr erlöst als auf dem gesamten österreichischen Heimmarkt.
Vor den Verhandlungen gab es übrigens auch die Debatte, ob es unsere Neutralität überhaupt erlauben würde, der EU beizutreten. Die Alliierten hatten aber keine Einwände und wir stimmten schließlich allen Verpflichtungen – auch der EU- Beistandspflicht – zu. Die Neutralität ist jedoch dadurch eine etwas andere geworden als sie es 1955 war.
Wie ging es dann weiter?
1993 starteten die formalen Beitrittsverhandlungen und im März/April 1994 fand dann die Schlussrunde mit den damaligen Beitrittskandidaten Österreich, Finnland, Schweden und Norwegen statt, in deren Rahmen die Verhandlungen abgeschlossen werden sollten.
Dieses Treffen ging als „Elefantenrunde“ in die Geschichte ein. Nachdem der damalige Außenkommissar Hans van den Broek uns nach unserer Ankunft in Brüssel verkündete, dass er nicht bereit sei, die agrarischen Inhalte, über die wir zuvor drei Jahre lang verhandelt hatten, zu akzeptieren, mussten wir binnen eines Tages und einer Nacht ein Alternativprogramm entwickeln. Ursprünglich wollten wir ähnlich lange Übergangszeiten, wie sie seinerzeit Spanien und Portugal zugestanden wurden, um allmählich in das europäische System hineinzuwachsen. Die EU hat das aber für uns nicht akzeptiert. Das war natürlich ein Schock. Rückblickend betrachtet war es allerdings sogar nützlich, weil wir gezwungen waren, das Agrarsystem schnell und radikal umzubauen und von Anfang an die europäischen Regeln anzuwenden. An den heutigen Exportzahlen kann man ablesen, dass das durchaus erfolgreich war.






Wie haben Sie zur Zeit der Beitrittsverhandlungen die Stimmung in der Bevölkerung wahrgenommen und wie hat sich die Zustimmung zur EU über die Jahre entwickelt?
Zwei Wochen vor dem Referendum am 12. Juni 1994 hatten wir in den Umfragen noch keine Mehrheit und es war eine große Überraschung, dass dann doch zwei Drittel der Österreicherinnen und Österreicher für den Beitritt stimmten. Nach 1995 kam es dann zu einer beachtlichen Modernisierung der Wirtschaft, die Zustimmung zur EU war zu dieser Zeit sehr hoch. Zum ersten „Einbruch“ kam es dann im Jahr 2000, als sich der damalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel auf eine Koalition mit Jörg Haider einließ.
Vor allem dem damaligen französischen Präsidenten Jaques Chirac stieß dies sauer auf – er war dann auch federführend bei den Sanktionen gegen Österreich, die übrigens keine EU-Sanktionen waren, sondern Absprachen unter den nationalen Regierungen. In Österreich hat das jedenfalls zu einem Vertrauensverlust in die EU geführt.
Die nächste „Delle“ in der EU-Zustimmung kam dann mit dem Bankrott der Lehman Brothers 2007/2008 und der darauffolgenden Eurokrise. Ab Mitte der 2010er Jahre war die Wahrnehmung wieder positiver, doch dann kam auch schon die Flüchtlingskrise des Jahres 2015, die bis heute nachwirkt. Sie hat aufgezeigt, dass das System, welches sich die EU diesbezüglich überlegt hatte – sprich die sogenannten Dublin-Beschlüsse – nicht funktioniert. Nur wenige Jahre später kam dann Corona und jetzt leiden wir unter unserer Konjunktur- Technologie- und Sicherheitsschwäche.
Was sind aktuell die drängendsten Herausforderungen, denen die EU gegenüber steht?
Momentan muss es vor allem darum gehen die genannten Schwächen zu beseitigen. Da wir in diversen Schlüsseltechnologien zurückgefallen sind, müssen wir alles daran setzen, dass wir sowohl in der Technologieentwicklung als auch in der Forschung wieder an die Weltspitze zurückkehren.
Ein weiteres drängendes Thema ist die Sicherheit Europas. Diese Problematik ist mit der Wahl des Präsidenten Trump zusätzlich enorm verstärkt worden. Es gibt keine Alternative zu großen gemeinsamen Investitionen in unsere eigene Sicherheit.
Glauben Sie, dass Trump bzw. die USA Europa wirklich im Stich lassen würde bzw. nicht weiter unterstützen wird?
Das Sicherheitsthema ist ja keine Erfindung von Trump, das hat schon bei Clinton begonnen, auch unter Obama und Biden wurden die Europäer regelmäßig aufgefordert, mehr für ihre Verteidigung zu tun. Das hat man leider bei uns zu wenig ernst genommen. Wenn Europa nun einigermaßen vernünftig handeln will, muss man die Beschaffung der benötigten Rüstungsgüter gemeinschaftlich organisieren, das macht es zum einen billiger und zum anderen hat es keine Zukunft, wenn man, wie aktuell, 17 verschiedene Panzertypen hat und die Kommunikationssysteme untereinander nicht kommunizieren können. Zudem braucht man gute Geheimdienste, Satellitenbeobachtung und auch eine leistungsfähige Raketen- und Drohnenabwehr – momentan ist es ja so, dass wir diesbezüglich sehr stark auf die Amerikaner angewiesen sind.
Aber warum hat man sich so lange auf die USA verlassen?
Das ist eine Nachwirkung des Zweiten Weltkrieges. Man hat nach dem Krieg die NATO gegründet, bei der die USA den Ton angegeben und sehr viel Geld und Materialien investiert haben. Das wurde von Europa dankend angenommen. Zudem kann man seit einigen Jahren beobachten, dass sich die USA stärker dem pazifischen Raum zuwenden. Die Amerikaner sehen den großen Gegner ja nicht mehr in Russland, sondern in China. Aber auch Indien wird ein Thema werden. In 30 Jahren werden dort deutlich über 1,5 Milliarden Menschen leben, und wenn es um Kreativität und Technologieentwicklung geht, sind die Inder schon jetzt ein echter Konkurrent.
Nun zu einer anderen Thematik, die die EU schon seit geraumer Zeit beschäftigt: Die Integration weiterer Staaten in die EU. Wie stehen Sie dazu?
Es gibt ja eine ganze Reihe von Staaten, denen wir die Aufnahme in die EU schon lange versprochen haben. Es wundert mich nicht, dass diese langsam ungeduldig werden. Gleichzeitig gibt es aber auch Probleme mit Staaten, die bereits Mitglieder sind. Wenn man jetzt noch weitere Länder aufnimmt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand blockiert, noch größer – das Einstimmigkeitsprinzip steht dann zunehmend im Weg. Außerdem ist die Entscheidungsstruktur der EU im Prinzip immer noch auf wenige Mitgliedsstaaten ausgelegt. Hinzu kommt, dass die meisten Beitrittskandidaten wirtschaftlich nicht gerade an der Spitze stehen, daher Nettoempfänger wären und wir die Förderungen dieser Länder zusätzlich finanzieren müssten.
Es gibt aber auch Überlegungen die Mitgliedschaft zu flexibilisieren – ein Land könnte dann z.B. nur in Bezug auf den Binnenmarkt und die vier Freiheiten aufgenommen werden o.Ä.
Der EU fehlen aber auch aktuell starke Persönlichkeiten wie es etwa François Mitterrand oder Helmut Kohl waren, die zu ihrer Zeit die Erweiterung der EU vorangetrieben haben. Insofern ist auch die europäische Innenpolitik momentan in keiner sehr starken Position.
Zum Schluss noch zu Ihrem 2004 erschienenen Buch „Die Kraft der Mitte“ – was sind die wesentlichen Charakteristika dieser Mitte?
Eine schwierige Frage, die ich versucht habe, im Buch zumindest teilweise zu beantworten. Man muss sich die Mitte jedenfalls als einen Raum und nicht als einen Mittelpunkt vorstellen. Parteien hatten in der Vergangenheit ja immer auch unterschiedliche Flügel, eine gewisse Breite war also stets vorhanden. Die Mitte ist aber in den letzten Jahren „dünner“ geworden und auch die Parteien haben sich immer „schmäler“ definiert.
Das muss sich wieder ändern. Ich bin der Meinung, man muss unbedingt am Konzept der liberalen Demokratie festhalten und eine solche kann nur über frei gewählte Mehrheiten funktionieren. Diese wiederum kann man nur mit Vertreterinnen und Vertretern der politischen Mitte erreichen, weil nur diese ausreichend kompromissfähig ist. Ich glaube, wir sind wirklich gut beraten, wenn wir für den Erhalt und die Weiterentwicklung der liberalen Demokratie kämpfen und deshalb muss man die Parteien der Mitte stärken.
Hier finden Sie „Die Kraft der Mitte“ von Dr. Franz Fischler