Im Rahmen des Türkiye-Schwerpunktes hat das SOCIETY Magazin mit dem türkischen Botschafter in Österreich, S.E. Ozan Ceyhun, über bilaterale Beziehungen, Perspektiven für die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Österreich und Türkiye und dem 100. Jubiläum der türkischen Republik gesprochen.
Wie bewerten Sie die Beziehungen zwischen Türkiye und Österreich in jüngster Zeit?
Seit dem Jahre 2020 haben sich unsere bilateralen Beziehungen zu Österreich, die zuvor einem Auf und Ab folgten, sehr gut entwickelt. Insbesondere in den letzten zwei Jahren haben wir gemeinsam in vielen Bereichen positive Schritte gemacht. Ich möchte betonen, dass Türkiye und Österreich zwei wichtige Länder mit einer gemeinsamen Geschichte und tief verwurzelten Beziehungen sind.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einmal unseren Dank an die Such- und Rettungsteams des österreichischen Bundesheeres und der NGOs, die nach der Erdbebenkatastrophe am 6. Februar 2023 sofort in unser Land kamen und viele unserer Bürger aus den Trümmern retteten sowie der österreichischen Regierung aussprechen.
Ein gutes Verhältnis zwischen Österreich und Türkiye ist im Interesse beider Länder. Eine engere Zusammenarbeit wird in Bereichen wie etwa Wirtschaft, Politik, Kultur und Sicherheit zu positiven Ergebnissen führen.
Die Abstimmung zwischen unseren Ländern hat sich insbesondere in bilateralen und multilateralen Fragen verstärkt. Ich denke hier an die aktuellen Entwicklungen in unserer Region, die Migration und den Sicherheitsbereich. Beide Seiten zeigen den gemeinsamen Willen, die Kooperation mit einer strategischen Perspektive weiter auszubauen.
Welche Rolle spielen die gegenseitigen hochrangigen Kontakte und Besuche bei der Vertiefung der bilateralen Beziehungen?
Zweifelsohne eine große. Unser Präsident Recep Tayyip Erdoğan unterhält einen sehr engen und konstruktiven Dialog mit dem österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen und dem Bundeskanzler Karl Nehammer. Ebenso steht unser Außenminister Hakan Fidan im engen Kontakt mit Außenminister Alexander Schallenberg. Dieser Dialog auf hoher Ebene hat viele Entwicklungen in den bilateralen Beziehungen ermöglicht. Die interparlamentarische Zusammenarbeit hat auch zu dieser positiven Atmosphäre beigetragen. Vor allem die gegenseitigen Besuche der Parlamentspräsidenten und der interparlamentarischen Freundschaftsgruppe waren ein Wendepunkt. Wie Sie wissen, stattete zuletzt Bundeskanzler Nehammer auf Einladung von Präsident Erdoğan mit einer großen Delegation am 10. Oktober 2023 der Türkiye einen offiziellen Besuch ab.

Können Sie einige Details über den Besuch von Bundeskanzler Nehammer in Türkiye nennen?
Herr Nehammer war der erste österreichische Bundeskanzler, der nach 22 Jahren Türkiye einen offiziellen Besuch abstattete. Dieser Besuch ist von historischer Bedeutung, da er den Willen auf höchster Ebene bekräftigt, unsere Beziehungen weiter zu stärken. Der Bundeskanzler wurde von Präsident Erdoğan und dem Parlamentspräsidenten Numan Kurtulmuş empfangen. Unser Präsident und der Bundeskanzler sind sich darin einig, Besuche auf hoher Ebene fortzusetzen und die bilateralen Beziehungen zu vertiefen.
Der österreichische Innenminister Gerhard Karner und der österreichische Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher begleiteten den Bundeskanzler. Sie führten ebenfalls sehr positive Gespräche mit ihren jeweiligen türkischen Amtskollegen.
Ebenso waren viele österreichischen Wirtschaftsvertreter Teil der österreichischen Delegation. Es wurde ein türkisch-österreichisches Wirtschaftsforum organisiert.
Ich denke, dass der Besuch von Bundeskanzler Nehammer einen Meilenstein in den bilateralen Beziehungen darstellt. Wir wollen die Dynamik, insbesondere in den Bereichen Sicherheit, irreguläre Migration und Wirtschaft fortsetzen.
Sie haben die Wirtschaft erwähnt. Wie steht es um die Beziehungen zwischen den beiden Ländern in diesem Bereich?
Die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen sind eine äußerst wichtige Säule der multidimensionalen Beziehungen zwischen Türkiye und Österreich. In diesem Zusammenhang war auch die Teilnahme von Wirtschaftsminister Kocher am Besuch vom Bundeskanzler sehr wichtig.
Der Handel zwischen unseren Ländern entwickelt sich stetig. Unser bilaterales Handelsvolumen, das im Jahre 2021 2,2 Milliarden betrug, erreichte im Jahre 2022 3,7 Milliarden US-Dollar. Die bisherigen Zahlen von 2023 deuten auf einen weiteren Anstieg hin.
Die Investitionen österreichischer Unternehmen in unserem Land haben in den letzten 20 Jahren rund 11 Mrd. US-Dollar erreicht. Die Zahl der österreichischen Unternehmen, die in den letzten 20 Jahren in unserem Land investiert haben, beläuft sich auf eintausend. In jüngster Zeit sind Investitionen in den Bereichen Recycling, Solar- und Windenergie in den Vordergrund getreten. Die türkischen Investitionen in Österreich haben 4,2 Milliarden Euro erreicht. Türkische Unternehmen, die in Österreich tätig sind, beschäftigen etwa zehntausend Menschen.
Das sind alles sehr gute Zahlen. Aber wir glauben, dass es noch Steigerungspotential gibt.
Türkiye ist ein wichtiger Lieferpartner für österreichische Unternehmen. Unser Land zeichnet sich durch seine Produktions- und Logistikkapazitäten aus. Türkiye exportiert in alle Teile der Welt und ist aufgrund ihrer günstigen geopolitischen Lage, ihrer logistischen Verbindungen, ihrer Produktions- und Arbeitskapazitäten ein wichtiges Zentrum. Österreich wiederum ist für türkische Unternehmen, die nach Europa expandieren wollen, in einer äußerst wichtigen Position.
Welche Perspektiven sehen Sie für die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen in der kommenden Zeit?
Das während des Besuchs von Bundeskanzler Nehammer organisierte Wirtschaftsroundtable bot eine hervorragende Möglichkeit, um neue Perspektiven auszuloten. Vertreter aus der Geschäftswelt beider Länder kamen zusammen, tauschten Ideen zur Vertiefung der Zusammenarbeit aus und sprachen Bereiche an, die verbessert werden müssen. Ein Punkt, der von vielen Vertretern beider Seiten angesprochen wurde, betrifft Probleme bei der Visavergabe für türkische Staatsbürger.
Ziel ist es, unser bilaterales Handelsvolumen in kurzer Zeit auf 5 Milliarden US-Dollar zu steigern. Wir glauben, dass es vor allem im Dienstleistungssektor ein großes Potenzial gibt. Wir können auch gemeinsame Investitionsmöglichkeiten in Drittmärkten erkunden, insbesondere im Bausektor. Wir können Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit bei der Diversifizierung der Energieversorgung schaffen. Die Zusammenarbeit in den Bereichen der grünen Wende, der erneuerbaren Energien und der Mobilitätstechnologien bieten ebenfalls viele Möglichkeiten. Wir glauben, dass Türkiye und Österreich ihre Produktions- und Investitionsökosysteme nach dem „Win-Win“-Prinzip gegenseitig nutzen können.
2023 feiert die Republik Türkiye den 100. Jahrestag der Gründung. Wie wird dieses Jubiläum gefeiert und welche Bedeutung hat es für Ihr Land?
Unsere Republik ist das Zeichen unserer Unabhängigkeit und Souveränität. Sie wurde unter sehr schwierigen Bedingungen, nach einem nationalen Befreiungskampf unter der Führung von Gazi Mustafa Kemal Atatürk am 29. Oktober 1923 gegründet. Das Ziel von Atatürk war es, dass sich Türkiye über das Niveau der zeitgenössischen Zivilisationen erhebt. In den vergangenen 100 Jahren hat unser Land feste Schritte in dieser Richtung unternommen. Unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die Türkei in allen Bereichen – von der Demokratie bis zur Wirtschaft, von der Sicherheit bis zur Justiz, vom Bildungs- bis zum Gesundheitswesen, von der Verteidigungs- bis zur Außenpolitik – epochale Reformen durchgeführt und wird dies auch weiterhin tun. Nun hat das „Jahrhundert von Türkiye“ begonnen.
Der 100. Jahrestag unserer Republik wurde mit großer Begeisterung gefeiert. Zum Beispiel organisierte die türkische Marine die größte Parade ihrer Geschichte am Bosporus. 100 Schiffe und U-Boote der türkischen Seestreitkräfte nahmen daran teil.
In Wien luden wir zu zwei großen Veranstaltungen ein. Der Chor der Zivilisationen aus Antakya trat bei dem von unserer Botschaft und dem Yunus Emre Kulturzentrum Wien veranstalteten Konzert am 29. Oktober 2023 im „Ehrbar Saal“ auf. Diese Veranstaltung des Chors, der bereits zahlreiche Konzerte in der ganzen Welt gegeben hat, war auch deshalb von Bedeutung, weil die Chormitglieder aus Antakya stammen – einer der Städte, die am stärksten vom Erdbeben betroffen waren. Beim Empfang unserer Botschaft und unseren Ständigen Vertretungen im Palais Liechtenstein am 30. Oktober war Bundesminister Kocher als Ehrengast anwesend. Beide Veranstaltungen stießen auf großes Interesse der Vertreter österreichischer Institutionen, des diplomatischen Corps und der Vertreter der österreichisch-türkischen Gemeinde.
Fotos: SOCIETY/Pobaschnig



