Von der Sowjetunion nach Russland

Vor 30 Jahren zerfiel der Vielvölkerstaat Sowjetunion und die Russische Föderation entstand unter schwierigen Bedingungen. Für viele Sowjet-Bürger war der neue Staat „ein ungeliebtes Kind“. Eines ist sicher: Russland ist immer noch eine Großmacht.

Von Hermine Schreiberhuber

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1991 war ein Schicksalsjahr für die UdSSR: Die kommunistische Weltmacht zerfiel nach 70 Jahren. Glasnost und Perestrojka waren angelaufen, um den erstarrten Großstaat zu modernisieren. Im August scheiterte ein Putsch kommunistischer Funktionäre zur Rettung der alten Sowjetunion. Im Dezember erklärten die Staatschefs Russlands, der Ukraine und von Belarus die Sowjetunion für beendet, als Nachfolgerin gründeten sie die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen erlangten ihre Unabhängigkeit.

Freude und Trauer gingen 1991 Hand in Hand. Die damaligen Hauptakteure Michail Gorbatschow, der letzte sowjetische Präsident, und Boris Jelzin, der erste russische Präsident, waren beide Verfechter der Perestrojka, dennoch politische Kontrahenten. Daraus machten sie in ihren späteren Lebensbilanzen kein Hehl. Doch rückblickend räumten sie auch politische Fehler ein, die in jener turbulenten Zeit passierten. Das Umfeld war jedenfalls äußerst schwierig. Glasnost (Offenheit) war eine unbekannte riskante Materie, Perestrojka (Erneuerung) mit Reformen und Demokratisierung schwer umzusetzen in einem Land, das in Schulden versank.

Blicken wir auf die Geschehnisse von 1991 zurück. Sowjet-Chef Gorbatschow befand sich auf der Krim. Nach dem gescheiterten Putsch kommunistischer Hardliner kehrte er nach Moskau zurück. Seine Tage waren gezählt. Die Politik der Perestrojka hatte viel Unzufriedenheit ausgelöst. Wirtschaftskrise und Unabhängigkeitsbestrebungen ließen wenig Spielraum. 25 Jahre später meinte Gorbatschow, mehr Dezentralisierung und eine Stärkung der Republiken hätten zum Erhalt der Union beitragen können. Die Hauptschuld am Zerfall wies er den drei GUS-Chefs zu, unter ihnen Jelzin, die ihn innenpolitisch entmachten wollten.

Kürzlich sagte der nunmehr 90-jährige Friedensnobelpreisträger Gorbatschow gegenüber Medien, er bereue es nicht, zu seinem eigenen Machterhalt damals keine Waffengewalt eingesetzt zu haben. Gegen den inzwischen verstorbenen Boris Jelzin hegt er immer noch Groll. In Moskau hatte sich Jelzin damals als machtbewusster Politiker etabliert. Der neue starke Mann ließ die Kommunistische Partei verbieten. Gorbatschow musste abtreten. Das Ende des Vielvölkerstaates Sowjetunion war nach 70 Jahren besiegelt.

Auch heute, unter Kreml-Chef Wladimir Putin, ist Gorbatschow von der Demokratiefähigkeit Russlands überzeugt. Während der Putin-Ära beklagte Gorbatschow immer wieder demokratische Rückschritte. Eine demokratische Entwicklung sei der einzig richtige Weg, lautet sein Resümee zum 30. Jahrestag des Zerfalls der UdSSR. Die Menschen wollten nicht zur früheren Ordnung zurückkehren. Auch nach Ansicht russischer Politologen war der Verfallsprozess des Sowjet-Reichs nicht aufzuhalten. 

Drei Jahre vor den spektakulären Ereignissen des Jahres 1991 gab Boris Jelzin nach längerer medialer Enthaltsamkeit drei österreichischen Journalisten, unter ihnen die Autorin dieses Berichts, ein viel beachtetes Interview. Der frühere Parteichef von Moskau war damals als Vizebautenminister in einer Warteposition, bevor er nach der Entmachtung Gorbatschows ein politisches Comeback feiern konnte. „Der Prozess der Perestrojka ist unumkehrbar“, lautete sein Credo. Glasnost sei zuerst gekommen, verbunden mit einer gewissen Öffnung der Medien. Mit einigem Abstand seien wirtschaftliche Reformen und Bemühungen um mehr Demokratie gefolgt.

Doch es seien Fehler passiert, es gab „mehr Worte als Taten“, befand Jelzin 1988. Die Stimmung hinsichtlich des Fortgangs der Perestrojka war im ganzen Land sehr unterschiedlich. Bei Teilen der Bevölkerung war die Erwartungshaltung zu hoch, andere hatten die Hoffnungen auf Reformen schon aufgegeben. Dennoch: Für Jelzin war der Prozess der Perestrojka „unumkehrbar“, wie er gegenüber den österreichischen Medien betonte. Freilich, gewisse Korrekturen, auch gezieltere Maßnahmen, seien nötig, damit der Reformprozess gelingen könne.

Soziale Gerechtigkeit sei vonnöten, um mehr Zustimmung zum Reformprozess zu erlangen, so Jelzin damals. Es gelte, den Weg der Demokratisierung zu beschreiten, um Widerstand gegen die Perestrojka abzubauen. In diesem Kontext übte der Reformpolitiker deutliche Kritik am herrschenden Privilegiensystem. Viele Funktionäre seien nicht gewillt, auf ihre Privilegien zu verzichten. Die Parteipolitik müsse sich mit den brisanten Nationalitätenfragen auseinandersetzen. Wie wahr: Viele nationale Fragen in Nachfolgestaaten der Sowjetunion harren weiter einer Lösung. In Sachen Religion habe die Perestrojka mehr Toleranz gebracht, resümierte Jelzin 1988.

Ein interessanter Zeitzeuge äußerte sich 2007 in einem Interview mit der Autorin zur Entwicklung Russlands. Otto Habsburg, Sohn des letzten Kaisers der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, bezeichnete Russland ungeachtet des Zerfalls der UdSSR als letztes großes Kolonialreich. Die multinationale Donaumonarchie seiner Vorfahren war nach dem Ersten Weltkrieg zerschlagen worden, das Zarenreich bestand als kommunistische Sowjetmacht weiter. Der langjährige Europapolitiker erinnerte daran, dass er den russischen Staatschef Jelzin persönlich in Straßburg begleitete.

In den vergangenen 30 Jahren erlebten die europäischen und nicht-europäischen ehemaligen Sowjet-Republiken ein wechselvolles Schicksal. Die baltischen Staaten blicken nach Westen, sind Mitglieder von EU und NATO. Andere Ex-Sowjet-Staaten versanken in Bürgerkriege, in ethnische und religiöse Konflikte. Moldawien, Georgien, Armenien und Aserbaidschan sind Beispiele dafür. Viele dieser Konflikte sind weiter ungelöst, neue flammten auf. Die Ukraine leidet an einem pro-russischen Aufstand im Osten. Belarus kämpft mit dem Westen, konkret mit der EU, wegen demokratischer Defizite und eines schier unlösbaren Migrantenproblems.

Neue Akteure mischen in der Nachbarschaft Europas mit, Tür an Tür mit einer Reihe von Staaten, die selbst auf eine Sowjet-Vergangenheit zurückblicken. Allen voran will China durch ambitionierte Wirtschaftsprojekte Einfluss in der Region gewinnen. Europa und Russland täten gut daran, in vielen Bereichen das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen – im Interesse beider Seiten.

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