„Mama wird es Krieg in Europa geben?“

SOCIETY – Gastautor Christian Wehrschütz ist Korrespondent des ORF für den Balkan und die Ukraine und war zuvor als Redakteur in der Außenpolitischen Redaktion des Aktuellen Dienstes des Fernsehens, als dritter Korrespondent des ORF in Brüssel und im Aktuellen Dienst des Hörfunks (ORF) in der Nachrichtenredaktion tätig. Für seine außergewöhnliche journalistische Arbeit im Ukraine Krieg, wurde er 2022 mit dem Sonderpreis der Romy-Jury ausgezeichnet. In dieser Ausgabe berichtet er von seinen persönlichen Eindrücken der letzten Monate und Tage vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Am 22. Dezember hatte ich als Balkan-Korrespondent des ORF mit dem serbischen Präsidenten Alexander Vučić ein Interview, der einige Wochen davor in Russland Präsident Vladimir Putin getroffen hatte. Durch meine mehr als 20 Jahre währende Tätigkeit am Balkan kenne ich Alexander Vučić sehr lange; daher fiel es mir leicht, ihn nach seiner Einschätzung der russischukrainischen Beziehungen zu fragen, zumal die Ukraine für das Jahr 2022 etwa acht Manöver mit NATO-Staaten geplant hatte. Vučić ‘s Antwort lautete: „Ich fürchte, die Ukraine wird nicht die Gelegenheit haben, auch nur ein einziges Manöver durchzuführen!“ In seinem Kabinett fügten alte Bekannte dann noch ihre Sorge hinzu, dass der Westen Putin falsch einschätzen und ihn nicht ernst nehmen könnte. Ich informierte meinen Arbeitgeber über diese düstere Perspektive für das Jahr 2022; gemeinsam entschieden wir, dass ich meine für den Jänner geplante Rehabilitation im steirischen Bad Gleichenberg noch antreten
sollte; denn nach 22 Jahren Korrespondentendasein und der Leitung von zwei Büros seit acht Jahren, war eine körperliche Rundumerneuerung einfach fällig. Außerdem beurteilten wir die Lage richtig, dass ein großer Krieg in der Ukraine erst nach dem Ende der Olympischen Spiele in Peking beginnen werde, weil Moskau seinem wichtigsten Bündnispartner wohl nicht die mediale Aufmerksamkeit durch einen Kriegsausbruch „versauen“ werde. Somit trat ich die Rehabilitation an.

Während der Behandlungen kam ich im Turnsaal mit einer Therapeutin ins Gespräch; sie sagte mir, dass sie ihr 13-jähriger Sohn gefragt habe: „Mama, wird es Krieg geben in Europa?“ Meine Antwort lautete, dass es in Europa bereits seit acht Jahren Krieg gebe, der
leider von EU und USA viel zu sehr ignoriert werde.

Die Kriegsgefahr sei nun deutlich gestiegen, aber noch sei Zeit, eine diplomatische Lösung zu finden. Am 22. Jänner kehrte ich nach Kiew ins Büro zurück. Konfrontiert war ich zunächst mit dem medialen Popanz der 100.000 russischen Soldaten an der ukrainischen Grenze bei den Manövern der russischen Streitkräfte; hinzu kamen damals noch etwa 30.000 bis 40.000 Mann der Milizen der Separatisten in Donezk und Lugansk. Diese Zahlen, vor allem die 100.000, dominierten seit Tagen die westlichen Medien; doch kaum ein Journalist fragte nach Stärke und Einsatzbereitschaft der ukrainischen Streitkräfte, die mehr als 200.000 Soldaten zählten; diese Armee war nicht mehr mit der Phantomarmee des Jahres 2014 zu vergleichen; hinzu kam die hohe Erfahrung im Einsatz durch etwa 400.000 Reservisten. Ein Krieg würde somit alles andere als ein „Spaziergang“ oder „Blumenfeldzug“
werden, wobei es für uns allerdings damals unvorstellbar war, dass Vladimir Putin offensichtlich dieser Fehleinschätzung erliegen konnte.

Durch meine militärische Ausbildung und guten Kontakte zum Offizierskorps des österreichischen Bundesheeres verfügte ich über eine sehr gute Lagebeurteilung insbesondere über strategisch wichtige Städte und Örtlichkeiten. Am 16. Februar begannen wir daher mit einer Fahrt in die Ostukraine, um viele dieser Orte zu besichtigen und zu filmen, sowie um Kontakte aufzufrischen. Einen Tag später – am 17. Februar – flammten die Artillerieduelle an der mehr als 400 Kilometer langen Kontaktlinie mit massiver Härte auf, wobei dann die „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk ein Ansuchen um „brüderliche Hilfe“ an Moskau stellten und dort die „Forderungen“ nach einer Anerkennung in den Oblast-Grenzen erhoben wurde. Seit dem 17. Februar war mir somit klar, dass es zu einer Ausweitung des Krieges kommen würde, nur wusste ich noch nicht, ob es um eine große Lösung (inklusive Kiew) oder nur um die kleinere „Donbass Lösung“ gehen würde. Ich tippte eher auf die große Lösung – und so kam es auch. Unseren Nachtdienst im ORF hatte ich bereits am 17. Februar gebeten, mich sofort zu wecken, sollte der Angriff beginnen; am 23. Februar drehten wir noch in der Stadt Volnovacha und übernachteten in der Hafenstadt Mariupol.

Am 24. Februar knapp vor fünf Uhr früh informierte mich der ORF-Nachtdienst über den Angriff; wir machten noch einige Berichte aus Mariupol, drehten noch einige Bilder und machten uns auf nach Kiew, wo wir am Februar um 01:00 eine Geisterstadt antrafen. Der Krieg, der den auch vom Westen vernachlässigten Traum vom gesamteuropäischen Haus endgültig zu Grabe trug, hatte begonnen.


„Möge kein Dritter Weltkrieg daraus werden!“