„Das Korrespondent-Sein ist mein Leben“

ORF-Reporter Christian Wehrschütz berichtet seit Kriegsbeginn live aus der Ukraine. Nebenbei hat er auch noch ein Buch veröffentlicht, in dem er seine bisherigen Erlebnisse als Journalist Revue passieren lässt. SOCIETY hat mit dem Ausnahmejournalisten gesprochen.

Was hat sie zum Schreiben Ihres neuesten Buches bewogen?

Alle meine Bücher habe ich geschrieben, weil zuvor ein Verlag auf mich zugekommen ist. Im konkreten Fall war das im Sommer des Vorjahres der Verlag edition keiper, der gesagt hat, dass er gerne ein Buch hätte, in dem ich meine Erlebnisse als Journalist niederschreibe. Dann war es meine Gattin, die das Buch eigentlich erst ermöglicht hat, weil sie mir schon vor Jahren gesagt hat, ich solle doch ein Tagebuch führen. Damit war das Grundgerüst bereits vorhanden, außerdem war ich in den ersten Jänner Wochen 2022 noch auf Reha in Bad Gleichenberg und die habe ich noch fürs Schreiben genutzt.

Seit 24. Februar 2022 tobt ein Krieg in der Ukraine. Wie sind momentan die Bedingungen für die Presse vor Ort?

In der Ukraine herrscht eine Militärzensur, die die Arbeit eines jeden Journalisten beeinträchtigt. Es werden kaum Angaben über Verluste veröffentlicht und auch das erschwert die Bewertung des Kriegsgeschehens.

Wie begegnet einem die Zivilbevölkerung als Journalist?

Das hängt natürlich stark von der Situation ab. Wenn man auf Flüchtlinge und Vertriebene trifft, die gerade alles verloren haben, und man ist der zehnte Journalist, der ihnen begegnet, dann sind sie nicht sehr freundlich, weil sie natürlich einfach andere Sorgen haben.

Man muss sich immer bewusst sein, dass man als Journalist nicht wie ein Voyeur auftreten darf. Wir holen uns deshalb immer vorher das Einverständnis der Menschen, und nur dann drehen wir.

Sie waren bei Kriegsausbruch am 24. Februar noch in Mariupol. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Wir haben ja bereits einige Wochen vor Beginn des Krieges damit angefangen, uns auf eben diesen vorzubereiten. Wir sind zunächst die potentiell neuralgischen Gegenden abgefahren, meinen Kollegen und Kolleginnen vom Monitoring habe ich gesagt, dass sie mich jederzeit anrufen sollen, wenn der Krieg beginnt. Das war dann am 24. Februar um 4 Uhr früh der Fall. Ich habe daraufhin mein Team geweckt, wir haben alles gepackt und sind ins Zentrum und an den Hafen gefahren, um die Lage dort zu begutachten. Danach machten wir uns sofort Richtung Kiew auf. Wir wussten, dass Mariupol damals kein entscheidender Kriegsschauplatz sein würde und ein wesentlicher Punkt ist dann immer festzustellen, woher man die beste Information bzw. das Material erhalten kann.

Buchtipp: Mein Journalistenleben – zwischen Darth Vader und Jungfrau Maria von Christian Wehrschütz – edition keiper

War es für Sie von Beginn an klar, in der Ukraine zu bleiben?

Natürlich.

Wie schaffen Sie es, die emotionale Distanz zu wahren und das Ges(ch)ehene zu verarbeiten? Stumpft man irgendwann ab?

Man wird nicht abgestumpft. Es ist ja leider so, dass das nicht der erste Krieg bzw. bewaffnete Konflikt ist, über den ich als Journalist  berichte. So schlimm die Situation ist – das ist nicht mein Krieg und es ist auch nicht mein Land, daher habe ich mich ganz einfach an journalistische Prinzipien zu halten und zu versuchen, den Österreicherinnen und Österreichern – soweit mir das möglich ist – ein realistisches Bild der Lage zu vermitteln und das in allen Lebenslagen. Die beste Erholung ist für mich dann immer, wenn ich wieder Zeit mit meiner Familie verbringen kann.

„Je stärker Russland in die Defensive geraten sollte, umso größer wird jedenfalls die Gefahr, auf der anderen Seite haben auch die Inder und die Chinesen Russland sehr klargemacht, dass sie eine Verhandlungslösung wollen, und die sind wichtige Partner Russlands.“

Haben Sie Ihre Berufswahl jemals bereut?

Niemals.

Es gäbe also keine vorstellbare Alternative für Sie? Auch nicht das Schauspielern, wie Sie es ja schon einmal in Serbien gemacht haben? 

Als Angestellter beim ORF verdiene ich gleich viel – ob ich nun einen Beitrag mache oder 1000. Ich liebe jedenfalls meine Arbeit. Wenn mir aber jemand ein Angebot macht, nebenbei als Schauspieler tätig zu sein und ich denke, dass ich das kann, werde ich nicht ablehnen. Aber meine Arbeit an sich, das Korrespondent-Sein ist mein Leben.

Stehen Sie mit Ihren internationalen Kolleginnen und Kollegen im Austausch? Hilft man sich da auch einmal gegenseitig?

Ich stehe kaum in Kontakt mit anderen westlichen Journalistinnen und Journalisten, nachdem ich Russisch und Ukrainisch spreche, sind die lokalen Quellen einfach die wichtigsten.

Haben Sie ein journalistisches Vorbild?

Karl Kraus war in meinen Augen sehr sprachgewandt. Auch mein erster Chef in Brüssel war ein sehr guter Journalist. Er hat immer gesagt, dass ein Journalist nur so gut sei wie sein Telefonbuch. Er hat sehr viel Wert auf die Kontaktpflege gelegt und auch immer die nötige innere Distanz zum Gegenstand gewahrt.

Woher stammt Ihr Interesse am Balkan bzw. an der Ukraine? Erinnern sie sich vielleicht noch an die ersten Berührungspunkte? 

Der erste Berührungspunkt mit der Ukraine war das Buch „Planspiel – Das Ringen der Supermächte um die Welt“ von Zbigniew Brzezinski, dem ehemaligen Sicherheitsberater Jimmy Carters. Schon damals (1989) hat Brzezinski auf die geopolitische Bedeutung der Ukraine verwiesen und gesagt, dass Russland ohne Ukraine kein Imperium mehr sein wird. Das war für mich der Ausgangspunkt, mich mit der Ukraine zu beschäftigen. Was mein Interesse für den Balkan betrifft, rührt das daher, dass Österreich für den Balkan wichtig ist und umgekehrt, auch historisch gesehen.

Gibt es etwas, dass die Konfliktregionen in denen Sie bisher tätig waren, gemeinsam haben?
Für beide Konfliktregionen, in denen ich bis dato tätig war, haben natürlich das Ende des Kalten Krieges und der Zusammenbruch der Sowjetunion eine zentrale Rolle gespielt. Was sie des Weiteren – leider – gemein haben, ist das kollektive Versagen der westlichen Sicherheitspolitik. Der US-Diplomat Richard Holbrooke hat schon den blutigen Zerfall Jugoslawiens als das größte kollektive Sicherheitsversagen des Westens seit dem Ende des Zeiten Weltkrieges bezeichnet. Es gab so viele Warnsignale, etwa in einigen Reden von Putin – man hätte sehr viel anders machen können, auch was die NATO-Osterweiterung betrifft, um diesen Krieg zu vermeiden. Das ist aber natürlich keine Rechtfertigung für den Aggressionskrieg und Angriff Russlands.


Wenn Sie Putin interviewen könnten, was wäre die erste Frage, die Sie ihm stellen würden?


„Sie sind 20 Jahre an der Macht, vergleicht man Russland und China vor 20 Jahren und heute – warum ist der Unterschied so groß? Was hat Russland versäumt während China wirtschaftlich zu einer Weltmacht aufgestiegen ist?“


Glauben Sie, dass Putin die ukrainische Armee unterschätzt hat?


Das ist keine Frage des Glaubens, da kann man sicher sein. Das Potenzial, die Ukraine bzw. die ukrainische Infrastruktur zusammenzubomben, hat Russland aber nach wie vor und das geschieht zum Zeitpunkt des Interviews auch. (Das Interview wurde im Oktober 2022 geführt).


Die Rufe, dass die Sanktionen vielleicht nicht den gewünschten Effekt erzielen, werden immer lauter – wie sieht hier ihre Einschätzung aus? Spürt Russland die Sanktionen tatsächlich?


Russland spürt die Sanktionen sicher, aber wenn man geglaubt hat, dass man mit Sanktionen verhindern kann, dass Russland mit der Ukraine Krieg führt, dann war das ein absoluter Irrglaube. Selbst das kleine Serbien hat den Sanktionen jahrelang standgehalten – dort hat erst eine innere Wende zum Sturz von Milošević geführt.


In einem der letzten Kapitel Ihres Buches schließen Sie mit dem Satz „Möge kein dritter Weltkrieg daraus werden.“ – wie reell ist diese Gefahr?


Diese Gefahr lässt sich nicht abschätzen, ich sitze ja nicht in den Kabinetten von Putin, Selenski und Biden – je stärker Russland in die Defensive geraten sollte, umso größer wird jedenfalls die Gefahr, auf der anderen Seite haben auch die Inder und die Chinesen Russland sehr klargemacht, dass sie eine Verhandlungslösung wollen, und die sind wichtige Partner Russlands. Es besteht einfach immer die Gefahr, dass Situationen außer Kontrolle geraten und deshalb ist es sehr wichtig, immer zu versuchen, eine Verhandlungslösung zu finden, auch wenn eine solche gerade in weiter Ferne scheint. Der preußische General Carl von Clausewitz hat Krieg als die bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln definiert. Was mir fehlt ist eine intensive Suche nach einer politischen Lösung, die ohne eine Übereinkunft zwischen Moskau und Washington nicht möglich ist.


Ich darf noch einmal aus Ihrem Buch zitieren: „Wer in Kriegsgebieten unterwegs ist, ist stets in Gottes Hand“ – glauben Sie an Gott? Oder das Schicksal?


Im Grunde genommen glaube ich an eine Vorbestimmung – ich gebe Ihnen ein Beispiel: Michael Schumacher war sieben Mal Automobilweltmeister, dann stürzt er beim Skifahren und liegt im Koma. Dass es eine Lebensuhr gibt, daran glaube ich schon.

(c) ORF – Hans Leitner