Wichtig ist nur, gemeinsame Lösungen zu finden

SOCIETY traf den Botschafter der Europäischen Kommission in Österreich, Martin Selmayr, um mit ihm über die Strategie der EU im Kampf gegen das Coronavirus zu sprechen.

Sie als Botschafter der Europäischen Kommission setzen die entwickelten Strategien und beschlossenen Ziele der EU in Österreich um. Was sind die Prioritäten der Kommission für den Zeitraum von 2019-2024?

Klare Priorität ist derzeit die Bewältigung der Corona-Pandemie. Erstmals haben die 27 EU-Mitgliedstaaten in Gesundheitsfragen ihre Kräfte gebündelt. Deshalb schließt aktuell die Europäische Kommission im Namen aller EU-Staaten Verträge mit Pharmaunternehmen, damit Impfstoffe gegen Covid-19 rasch hergestellt und anschließend gerecht verteilt werden können – in Europa, aber auch darüber hinaus. Denn diese Pandemie wird erst zu Ende sein, wenn der Virus überall auf der Welt besiegt ist. Außerdem arbeitet die Kommission Tag und Nacht dafür, dass wir die Folgen der Pandemie auf Bürger und Unternehmen abfedern und so rasch wie möglich aus dieser Krise kommen. Das historische EU-Finanzpaket von 1,8 Billionen Euro wird dazu beitragen. Europa muss insgesamt widerstandsfähiger, effizienter und innovativer werden. Unser Kontinent will deshalb mit dem von der Kommission vorgelegten „Grünen Deal“ zum Vorreiter beim Klimaschutz werden und bis 2050 klimaneutral sein. Und wir wollen Europas Rolle in der Welt stärken. Denn wir werden nur dann unsere Werte und unser einzigartiges Sozialmodell bewahren, wenn wir in weltpolitischen Fragen – von der Sicherheit im Nahen Osten über die Armutsbekämpfung in Afrika bis hin zur Migrationsherausforderung – als Kontinent sprech- und handlungsfähig werden.

Apropos globale Rolle der EU: Wie verändert der Ausgang der US-Wahl das transatlantische Verhältnis?

Natürlich ist bei uns in den Gängen ein Seufzer der Erleichterung zu hören. Es ist für jedermann sichtbar, dass Joe Biden deutlich mehr an kooperativen transatlantischen Lösungen interessiert ist als es Donald Trump je war. Wir sollten allerdings nicht zu euphorisch sein. Trump mag im Januar Geschichte sein, aber der Trumpismus wird uns noch lange beschäftigen. Uns Europäern muss außerdem klar sein: Kein US-Präsident wird den Job für Europa machen. Bis zur Wahl Trumps 2016 konnten wir Europäer meist noch darauf zählen, dass es Uncle Sam notfalls richten würde, ob bei globalen Finanzkrisen oder in Sicherheitsfragen. Das war eine Komfortzone, in der wir uns recht behaglich eingerichtet hatten. Damit ist Schluss. Europa muss sein Schicksal ein Stück weit selbst in die Hand nehmen.

Bei Ihrem Amtsantritt im November sagten Sie, dass die EU Einigkeit zeigen muss. Wie sieht die derzeitige Beziehung zwischen der EU und Österreich aus?

Ich freue mich, dass die Grundeinstellung der Österreicherinnen und Österreicher nach 25 Jahren EU-Mitgliedschaft zwar kritisch, aber durchaus proeuropäisch ist. Man muss nicht alles, was aus Brüssel oder Straßburg kommt, für richtig halten, und das ist es ja auch nicht immer. Wichtig ist mir aber, darauf hinzuweisen, dass EU-Politik nicht auf fernen Planeten namens Brüssel oder Straßburg gemacht wird, sondern dass die österreichische Regierung seit 25 Jahren bei allen Entscheidungen mit am Tisch sitzt und direkt gewählte österreichische Europaabgeordnete alle EU-Gesetze maßgeblich mitgestalten. Aus der Sicht jedes EU-Staats gibt es das eine oder andere Thema, das auf EU-Ebene kontrovers diskutiert wird. Es ist völlig legitim, dass die österreichische Regierung dabei österreichische Interessen einbringt und vertritt. Wichtig ist nur, dass wir am Ende zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Und da ist Österreich meist sehr konstruktiv, wie vor allem der starke Beitrag zum Europäischen Aufbaufonds gegen die Corona-Krise zeigt.

Als Basis für eine gute Zusammenarbeit zwischen Brüssel und Österreich setzen Sie Vertrauen und Aufgeschlossenheit voraus. Daher sagen Sie auf Ihrer Website: „Wir möchten, dass Österreich Brüssel und Brüssel Österreich besser kennt und versteht.“ Wie wollen Sie diese Vertrauensbasis schaffen? Denken Sie, dass Europa Menschen jeder Generation anspricht?

Vertrauen schafft man nur mit Transparenz, Dialogbereitschaft und korrekten Informationen. Deshalb kommuniziert das Team unserer Kommissionsvertretung auf verschiedensten Ebenen: über persönliche Gespräche, über interaktive Diskussionsveranstaltungen, über unsere Europe-Direct-Informationszentren in den neun Bundesländern, über die EU-Gemeinderäte und über Medien. Europa hat für alle Altersklassen etwas zu bieten. Meine Nichten und Neffen sind bis heute darüber begeistert, dass Europa die Roaming-Gebühren abgeschafft hat, während sich die ältere Generation noch daran erinnern kann, dass der Frieden zwischen den Europäern keineswegs selbstverständlich ist. Die Corona-Pandemie zeigt auch, wie schnell das Europa der offenen Grenzen und des ungehinderten Reisens in Frage gestellt werden kann. Meine wichtigste Botschaft ist deshalb immer: Europa ist nicht perfekt. Man muss jeden Tag an Europa arbeiten, wenn man es bewahren und verbessern möchte. Das kann jeder tun, ob jung oder alt, indem er oder sie sich in die Debatte um die Gestaltung unseres Kontinents einbringt.

Wie stellen Sie sich das Europa der Zukunft in 25 Jahren vor?

Europa wird in 25 Jahren hoffentlich weiterhin ein offener, wertegeprägter Kontinent sein, der seinen Bürgerinnen und Bürgern Freiheit, Fairness und Sicherheit bietet. Europa wird weiter dezentral und demokratisch organisiert sein, aber in entscheidenden Politikfeldern seine Kräfte wirksam bündeln können. Wir werden dann hoffentlich auch mit einer effizient organisierten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik – vertreten durch einen gemeinsamen Europäischen Außenminister – einen zentralen Beitrag zu Frieden und Freiheit in der gesamten Welt leisten. Ich sehe die Europäische Union in dieser Zeit durch die Aufnahme der Staaten des Westbalkans auf 35 Mitgliedstaaten angewachsen – was uns dazu zwingen wird, die EU-Entscheidungsverfahren erneut deutlich zu vereinfachen. Wenn uns das gelingt, dann wird Europa neben den USA und China die globale Ordnung mitgestalten können. Ein solches Europa wird in 25 Jahren auch ein wichtiger Pfeiler der Vereinten Nationen sein und dort – vielleicht sogar mit einem europäischen Sitz im Sicherheitsrat – an der weiteren Ausgestaltung des multilateralen Systems mitwirken können. Und Europa wird, so meine Hoffnung, in 25 Jahren ein starker Akteur im Weltraum sein. Ich stelle mir vor, dass bei den ersten Menschen, die bis dahin auf dem Mars landen werden, auch mindestens eine Europäerin dabei sein wird.

Foto: SOCIETY/Pobaschnig