Teil 1: „Gazprom wird weiter liefern“

SOCIETY hat mit Energieexperte Alfred Schuch über die Wahrscheinlichkeit einer Unterbrechung der Gasversorgung aus Russland, Alternativen zu Erdgas, österreichische Erdgasvorkommen, Speicher und Klimaneutralität gesprochen. In einem zweiteiligen Interview beantwortet er diese brennenden Fragen.  

Im Februar haben Sie in einem Interview mit der Wiener Zeitung gesagt, dass Sie nicht glauben, dass die Gasversorgung aus Russland unterbrochen werden wird. Wie schätzen Sie die Lage heute ein?

Energieexperte Alfred Schuch

Ich stehe noch immer zu meiner Meinung – den Logiken der Spieltheorien folgend. Ich gehe auch nicht davon aus, dass man sämtliche Beziehungen bewusst auf lange Zeit ruinieren will. Gazprom wird also weiter liefern. Die gegenwärtigen, sehr durchdachten Machtspiele der Russen dienen dazu, den Erdgaspreis in die Höhe zu treiben. Jedes Schnaufen – und sei es noch so unbegründet – bewirkt bei den Erdgashändlern Unbehagen, insbesondere wenn sich PolitikerInnen einmischen. Das begründet sich u.a. auch in dem derzeit sehr ausgeprägt vorherrschenden Verkäufermarkt. Außerdem kann Europa bzw. die EU die Importe von Erdgas derzeit – also auf kurze Sicht – vorwiegend nur mittels LNG (Liquefied Natural Gas) erhöhen, weil die Pipelinetransportkapazitäten von Norwegen, aber auch aus Algerien bzw. Aserbaidschan nach Europa bereits fast zur Gänze ausgelastet sind.

Meinen Berechnungen zufolge kann man aus den technisch noch verfügbaren Pipelinekapazitäten nach Europa/EU im allerbesten Fall zusätzlich 10 Mrd. Nm3/a importieren. Der Verlust durch Gazprom-Gas betrüge aber ca. 160 Mrd./a. Erdgasverflüssigungsanlagen sind sehr teuer und brauchen eine sehr lange Ausführungszeit (7-10 Jahre). Die Investitionen sind verständlicherweise mit sehr langfristigen (20-30 Jahre oder länger) Take or Pay Verträgen unterfüttert.

Zusätzliches Erdgas für europäische Unternehmen ist generell schwer zu bekommen, da „lediglich“ 1/3 des weltweiten LNG noch frei verfügbar ist. Die anderen Mengen sind mittels langfristiger Verträge gebunden. Darüber hinaus steht die EU – korrekter die Unternehmen aus der EU – in direkter Konkurrenz mit Japan, Südkorea, Taiwan und China um diese Mengen. Japan, Südkorea und Taiwan müssen hierbei „jeden“ Preis zahlen, China kann teilweise auf Kohle ausweichen.

(Europäische Unternehmen kaufen derzeit – beispielsweise den Pakistani – das LNG weg, folglich muss in Pakistan mit sehr alten und wenig effizienten Kohlekraftwerken Strom produziert werden. Global betrachtet steigt dadurch die Emissionsmenge von Treibhausgasen, weil die Kohlekraftwerke in Europa – samt Abwärmeverwertung – effizienter als in Pakistan arbeiten. Man sieht an diesem simplen Beispiel, wie durch das Bremsen von einigen Akteuren hinsichtlich vorübergehenden Einsatz von Kohlekraftwerken die Treibhausmenge global steigt, während diese in Europa marginal abnimmt.)

Momentan finden ja noch Wartungsarbeiten an Nord Stream 1 statt. Wird die Pipeline Ihrer Einschätzung danach (geplant für den 21. Juli) gleich wieder ans Netz gehen?

Gazprom wird nach den erfolgten Maintenancearbeiten an der Kompressorstation Porowaja der Nord Stream 1 nicht sofort ans Netz gehen, sondern die Wiederinbetriebnahme ein wenig hinauszögern – mit Verweis auf die verspätetet Lieferung der Turbine aus Kanada. Die Preise werden steigen. Dann wird Gazprom wieder aufdrehen – aus folgenden Gründen:

  • bei den jetzigen Preisen betragen die jährlichen Erlöse aus dem Export von Erdgas nach Europa ca. 200 Mrd. €/a für Gazprom (ohne Erdöl bzw. Erdölprodukte).
  • die Verträge mit Gazprom beinhalten Take or pay Klauseln ABER meistens auch Delivery or Pay Klauseln. Das bedeutet, dass im Falle eines Lieferausfalls durch Gazprom diese – zumindest theoretisch – schlagend werden würden. Dann würde man die nicht gelieferte Menge mit den dann eintretenden, sehr hohen Gaspreisen multiplizieren. Daraus würden sich für die Gazprom Verbindlichkeiten von ca. 250 – 300 Mrd. € pro Jahr, zusätzlich zu 200 Mrd. € Erlösentfall ergeben.

Gazprom kann die Mengen, die nach Europa verkauft werden aufgrund der Leitungsgebundenheit ja nicht sofort umlenken, nach China würde das zum Beispiel mindestens 10 Jahre dauern – und dann wäre Gazprom zu stark von China abhängig – das will weder China noch Präsident Putin. Ich denke, dass Präsident Putin mit Präsident Xi Jinping – als strategischer Partner – auf Augenhöhe gesehen werden möchte. Außerdem würde – wenn Gazprom die Gasversorgung nach Europa einstellt – der LNG-Preis stark ansteigen, und das würde natürlich auch für China gelten, das – wie bereits erwähnt – mit kaufkräftigeren europäischen Ländern, Japan, Südkorea und Taiwan in Konkurrenz stehen würde.

Chinas Wirtschaft wächst gerade nicht so stark wie gewohnt bzw. gewünscht, dieser „Trend“ würde von einem sehr hohen LNG-Preis noch verstärkt. Ich denke, dass China Präsident Putin zu verstehen geben würde, dass das nicht in ihrem Interesse ist.

Würde Putin das Gas wirklich abdrehen wollen, stellt sich außerdem die Frage, warum er es bis dato dann noch nicht gemacht hat – jeder Tag mehr ist schließlich ein Vorteil für Europa bzw. für die EU.

Zudem denke ich, dass Putin ein ausgeprägter Machtmensch ist, er würde die Welt wissen lassen, dass er die Entscheidung, das Gas abzudrehen, selbst getroffen hat und sich nicht hinter Reparaturarbeiten verstecken – zumindest nicht langfristig. Das Hinauszögern wäre ab einem gewissen Zeitpunkt ja nicht mehr glaubhaft.

Ich weiß, dass ich mich hier sehr weit hinauslehne aber wir werden in einigen Tagen sehen, was wirklich passieren wird.

Welche unmittelbaren Alternativen gäbe es zum russischen Gas? Und wie kann unsere Abhängigkeit auf lange Sicht reduziert werden? Könnte Biogas eine Alternative zu russischem Erdgas sein?

Der Plan der EC „RePowerEU“ sieht Potenzial, den Gasbedarf aus Russland von derzeit ca. 160 Mrd. bis Ende 2022 um zwei Drittel zu senken. Meiner Meinung nach ist das aber zu ambitioniert gedacht, zumal in den USA eine Erdgasverflüssigungsanlage (Freeport) aufgrund eines Brandes ausgefallen ist.

Realistischerweise könnte der Import aus Russland um ca. 70 – 80 Mrd. Nm3 bis Ende 2022 reduziert werden. Dazu bedarf es aber einer Koordination auf EU/europäischer Ebene, beispielsweise durch die Europäische Kommission, damit nicht jeder gegen jeden um die verbliebenen Gasmengen kämpft. Ein unkoordinierter Zugang würde – insbesondere in Österreich – zu viel schlechteren Ergebnissen führen. Selbst wenn man den Bedarf aus Russland „nur“ um 60 Mrd. senken könnte, wäre ein wichtiger Schritt getan.

Zusätzlich sollte ein Switch von Gaskraftwerken und Industriebetrieben von Erdgas auf Heizöl in der ganzen EU/Europa, Japan, Südkorea, USA etc. passieren. Dies würde dazu führen, dass der Gasbedarf und damit auch der Gaspreis wieder sinken würden. Ebenfalls müsste man den Strombedarf reduzieren, um nicht die Gaskraftwerke betreiben zu müssen, weil diese ja dann den Strompreis über die sogenannte „Merit Order“* setzen. Die einzusparende Strommenge für den Entfall des Einsatzes von Gaskraftwerken ist – beispielsweise in Ö – nicht viel, zumindest nicht im Sommer. Natürlich ist es auch sinnvoll, die Raumtemperaturen – zumindest im öffentlichen Bereich, weil handhabbar – auf 20°C zu senken. Wenn man all das berücksichtigt, wäre der Produktionsrückgang in der Industrie nicht mehr so dramatisch, unerwünscht aber allemal.

Biomethan kann – mittel- bis langfristig – zur Unabhängigkeit von russischem Erdgas beitragen, aber der Bau einer Biomethananlage dauert lange. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass viele Studien vom theoretischen – oder bestenfalls vom viel geringeren technischen Potenzial – in Österreich ausgehen. Hier müssen wirtschaftliche Kriterien berücksichtigt werden, um auf das noch geringere wirtschaftliche Potenzial und in weiterer Folge auf das geringste Potenzial, nämlich das Marktpotenzial, zu kommen. Hier bedarf es Gesetze, weil Investoren klare Rahmenbedingungen für Investitionen brauchen.

Auf lange Sicht kommen, neben Biomethan, die Renewables – sprich Wind, Photovoltaik und auch Geothermie – sowie Wasserstoff in Frage. Hierzu wurde kürzlich ja mit großer Verzögerung die österreichische Wasserstoffstrategie präsentiert. Diese basiert allerdings auf teilweise unrealistischen Annahmen und man kann getrost von Halbherzigkeit sprechen.

Grundsätzlich muss aber auch noch die Frage beantwortet werden, wie man mit langfristigen „Take or Pay“ Verträgen mit Gazprom umgehen kann, wenn man vor Vertragsende den Bezug von Erdgas aus Russland beenden möchte. Wenn man zum Beispiel Verträge bis 2035 hat, man aber gleichzeitig das Ziel der EU, bis 2030 vom russischen Erdgas loszukommen, erreichen möchte, müsste man für die nicht abgenommenen Erdgasmengen Zahlungen an die Gazprom tätigen und gleichzeitig womöglich teures LNG zukaufen – das würde dann also doppelte Kosten bedeuten.

*Einsatzreihenfolge von Kraftwerken, die durch die variablen Kosten der Stromerzeugung bestimmt wird. Dabei werden zuerst die günstigsten Kraftwerke zur Deckung der Nachfrage aufgeschaltet, das letzte Kraftwerk mit den höchsten Grenzkosten, das zur Deckung der Nachfrage benötigt wird, bestimmt den Preis. (www.wirtschaftslexikon.gabler.de)

Ing. Mag. Alfred Schuch:

Mitte 2020-Anfang 2022: Projektpromoter hinsichtlich Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission im Rahmen eines großen Erdgaspipelineprojektes, welches auch auf der PCI (Project of Common Interest) Liste enthalten war

2010-2020: Österreichische Energieagentur, Teamleader, in zahlreichen von der EU geförderten Projekten sowie IEA-Projekten mit Fokus auf Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie sowie auf Biogas und Biomasse

Feb 2006-Juni 2010: Abteilungsleiter, Hydrocarbons Unit, Aufbau Sekretariat der Energiegemeinschaft (Energy Community), Erstellung und Präsentation der Fortschrittsberichte an die Europäische Kommission sowie an das Ministerial Council der Energy Community und Vertretung der Contracting Parties der Energy Community in den Security of Gas Supply Arbeitsgruppen in der Gasversorgungskrise 2009

2002-2006: Erdgasexperte für die österreichische Regulierungsbehörde E-Control, Vertretung der Interessen der Regulatoren auch auf EU-Ebene, Nabucco-Projekt

Davor: über 10 Jahre Projektleiter für ein Erdöl und Erdgas produzierendes Unternehmen in Österreich

Bild: Rund 30 Kilometer nordöstlich von Salzburg befindet sich in Haidach der zweitgrößte Erdgasspeicher Mitteleuropas. Hier können rund 2,9 Milliarden Kubikmeter gespeichert werden. Quelle