Europa braucht ein starkes Frankreich

Der Ruf nach einem starken Europa ist wieder laut geworden. Den Europäern wurde durch die Pandemie-Krise und durch den Angriff auf die Ukraine erbarmungslos vor Augen geführt: Solche Gefahren machen nicht vor Grenzen halt.

Text: Hermine Schreiberhuber

Zur Bewältigung bedarf es des Zusammenwirkens aller Kräfte und starker Akteure. Frankreich stand in diesem Kontext vor enormen Herausforderungen: Es musste die EU-Ratspräsidentschaft und eine nationale Präsidentenwahl meistern.

In der nunmehr schon Jahre dauernden COVID-19-Pandemie mussten die europäischen Staaten gemeinsam alle Kräfte aufbieten, um das Haus Europa zu schützen. Vorübergehend wurden Grenzen geschlossen, die für die europäischen Bürger nicht mehr existiert hatten. Plötzlich war es mit der selbstverständlich gewordenen Reisefreiheit vorbei. Enge Kooperation wurde zum Alltagsgeschäft.

Frankreich trat mit Jahresbeginn unter schwierigsten Umständen den EU-Ratsvorsitz an. Präsidenten- und Parlamentswahlen standen vor der Tür. Eine Reform des Schengen-Raums, die Regulierung der Internet-Konzerne und die Klimaproblematik nannte Präsident Emmanuel Macron als große Vorhaben. Auch solle die europäische Sicherheitsstruktur verbessert werden, wünschten sich Macron und die EU-Kommission.

Die COVID-19-Krise habe den Wert der Europäischen Gemeinschaft deutlich gemacht, betonte Macron im Jänner. Zugleich sprach er sich für einen Dialog mit Russland aus, das neue Sicherheitsvereinbarungen mit der NATO forderte. Kaum zwei Monate später starteten die russischen Truppen ihren Angriff auf die Ukraine. Europa stand unter Schock. Starkes Krisenmanagement war gefragt, nicht nur in der EU-Zentrale Brüssel.

Paris wurde zu einer Schaltzentrale der Weltpolitik. Macron, ob als EU-Ratsvorsitzender oder als französischer Präsident im Wahlkampf, hielt die Gesprächsverbindung zu den Präsidenten der beiden Konfliktpartner in Moskau und in Kiew/Kyjiw aufrecht. All dies geschah inmitten eines schicksalhaften Wahlkampfs, wo dem liberalen Amtsinhaber eine Ablöse durch seine rechtspopulistische Herausforderin Marine Le Pen drohte.

Zweifellos, der Ukraine-Krieg hat Europa zusammengeschweißt. Sogar Großbritannien, das noch die Folgen des Brexits zu bewältigen hat, ist in Sachen Ukraine an Bord des europäischen Flaggschiffes. Zweifellos hat die Europa-Politik durch Macrons Einsatz jetzt eine stärkere französische Signatur. Dies liegt wohl auch daran, dass Deutschland nach der langen Ära der Bundeskanzlerin Angela Merkel von einer Drei-Parteien-Koalition unter Olaf Scholz geführt wird, ein Novum in Berlin.

Frankreich verheißt Kontinuität, der Wahlsieg Macrons nach dem engen Heranrücken seiner Herausforderin Le Pen ließ Europa aufatmen. Das Land ist per se ein Machtfaktor – nach dem EU-Austritt Großbritanniens die einzige Atommacht in der Union, zudem ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat. Das Erklingen der Europa-Hymne nach dem Wahlsieg Macrons sandte ein pro-europäisches Signal an die EU-Partner.

Von den beiden „EU-Großen“ Frankreich und Deutschland kamen Signale, den „Europa-Motor“ wieder gemeinsam zu befeuern. Es gilt, die Verteidigungs- und Einsatzfähigkeit Europas zu stärken. Divergierende Interessen in der Finanz-, Energie- und Rüstungspolitik sowie in der Haltung zum Westbalkan müssen besser akkordiert werden. Deutschland hat 2022 die Präsidentschaft der G-7-Gruppe, der großen Industriestaaten, inne; dies mag bei der Kooperation hilfreich sein.

Innenpolitisch stehen Frankreich und dem wieder gewählten Präsidenten schwierige Prüfungen bevor. Zwar hat der französische Staatschef weitreichende Befugnisse. Doch die Wählerschaft ist gespalten; die traditionellen bürgerlichen Parteien sind schwach, Gruppierungen links und rechts der Mitte stark. Die Parlamentswahlen im Juni könnten demnach zu einer Cohabitation führen, wo eine europakritische Partei den Premierminister stellt.

Ungeachtet des knappen Wahlergebnisses: Seit der Wiederwahl von Jacques Chirac 2002 wurde erstmals in Frankreich ein Präsident im Amt bestätigt. In der ersten fünfjährigen Amtszeit konnte Macron nach einem dynamischen Start wichtige geplante Vorhaben nicht umsetzen. Die Rentenreform blieb Stückwerk, die Protestbewegung der Gelbwesten blockierte die Politik. Dann kam die COVID-19-Pandemie, schließlich der Ukraine-Krieg.

Von einer „paralysierten Wählerschaft“ sprach die Zeitung „Le Monde“. Nie zuvor war das Interesse am Wahlkampf so gering gewesen. Die Mehrheit der Wähler erblickte keinen Ansprechpartner, denn die Rechtsbürgerlichen (Les Republicains) und die Sozialdemokraten (Parti Socialiste) versanken neben den Protestparteien von links und rechts in Bedeutungslosigkeit. Freilich, in Macrons Regierungen waren sehr wohl Politiker aus den Reihen der Traditionsparteien eingebunden.

Frankreich bedürfe eines inneren Wandels, stellte der Politikforscher Nicolas Baverez fest. Bei den an den „starken Staat“ gewohnten Franzosen sei ein Mentalitätswandel eingetreten. Junge Menschen zögen freies Unternehmertum dem Staatsdienst vor. Derzeit ist jeder fünfte Erwerbstätige im Staatsdienst. Statt „Etatismus und Zentralisierung“ seien Mobilität und Flexibilität gefragt, Reformen im Gesundheits-, Bildungs- und Justizwesen seien nötig.

Macron steht vor riesigen Herausforderungen. Der EU-Ratsvorsitz, den Frankreich im Jänner von Slowenien übernahm, geht im Juli an Tschechien. Doch außenpolitisch kann die Union auf die Expertise und Dialogfähigkeit des französischen Präsidenten nicht verzichten. Niemand weiß, wohin der russische Angriffskrieg führen wird. Die Wiederbelebung der französisch-deutschen Achse in der EU wird einem starken Europa nützen.  

Mit seinem Ukraine-Engagement hatte der Präsident anfangs bei den Franzosen gepunktet. Doch nun erwarten sie Lösungen und Fortschritte im eigenen Land. Ein solches Versprechen gab Macron nach der Wahl ab. In der Stichwahl gaben viele Bürger ihre Stimme für ihn ab, um die rechte Kontrahentin im Élysée-Palast zu verhindern. Er wolle für alle da sein, auch jene, die ihn nicht wählten, versprach Macron. Deren Zahl ist groß, ihre Erwartungen sind hoch.

(c) Judith Litvine/MEAE