Bitte jetzt aber wirklich!

von Dr. Emil Brix

Wer durch einen dunklen Wald geht und unentwegt pfeift, hat entweder Angst oder er ist der merkwürdigen Überzeugung, dass sein Pfeifen die Dunkelheit vertreiben wird. In einer derartigen Situation scheinen wir uns derzeit an vielen Orten der Welt zu befinden. Europa ist für dieses Dilemma einer dunklen Wegstrecke ein gutes Beispiel. Die einen fürchten sich vor einem unvermeidlichen Wohlstandsverlust und haben Angst vor einem Atomkrieg, die anderen fordern Zuversicht und Optimismus als Rezept ein.

Viel Anlass für Zuversicht geben uns weder die wirtschaftliche Situation noch die Weltlage. Die Wirtschaft Europas stagniert bestenfalls und von einer stabilen und gerechten Weltordnung sind wir weit entfernt. Wie oft haben wir in den letzten Jahren bereits gehört, dass dies für Europa ein Weckruf sein muss? Erinnern Sie sich noch an einen deutschen Bundeskanzler, der von der „Zeitenwende“ gesprochen hat? Die Europäische Union hat sich mit der humanitären und militärischen Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg auf die richtige Seite der Geschichte gestellt, aber unbestritten ist diese Hilfe nicht in allen EU-Staaten. Und wir werden noch sehen, ob das Bekenntnis zu einer deutlichen Steigerung der Verteidigungsfähigkeit Europas von Bestand sein kann, wenn dies zulasten sozialstaatlicher Leistungen gehen wird.

Vor dieser verkündeten Zeitenwende galten die Regulierungs- und die Handelsmacht als dauerhafte Stärken der EU. Heute wird in Europa mehr über notwendige Deregulierungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und über unvermeidbare Zollkriege zur Verteidigung gegen die US-amerikanische Wirtschaftspolitik gesprochen. Über Ersuchen der EU-Kommissionspräsidentin haben im letzten Jahr Enrico Letta und Mario Draghi recht drastisch die wirtschaftlichen Notwendigkeiten für Europa als globale Wirtschaftsmacht formuliert. Beide Berichte werden von den EU-Staaten freundlich ignoriert, obwohl Mario Draghi bei der Präsentation seines Berichtes im Europäischen Parlament eindrücklich vor einer „slow agony“ warnte, sollten nicht rasch Maßnahmen zur Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit getroffen werden. Im August dieses Jahres wurde er bei einer Konferenz in Rimini noch deutlicher:

„Um den Herausforderungen der heutigen Zeit gerecht zu werden, muss sich die Europäische Union vom Zuschauer – oder bestenfalls vom Nebendarsteller – zum Protagonisten wandeln. Auch ihre politische Organisation muss sich ändern, untrennbar mit ihrer Fähigkeit verbunden, ihre wirtschaftlichen und strategischen Ziele zu erreichen. …Fast achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird die kollektive Verteidigung der Demokratie von Generationen, die sich nicht an diese Zeit erinnern können, als selbstverständlich angesehen. Ihr Engagement für den politischen Aufbau Europas hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Union in der Lage ist, ihren Bürgern Zukunftsaussichten zu bieten – einschließlich des Wirtschaftswachstums, das in den letzten dreißig Jahren in Europa weit unter dem der übrigen Welt lag“.

Wurde auch dieser Weckruf nicht verstanden oder lassen sich eine Vollendung des Binnenmarktes und eine „europäische Souveränität“ schlicht und einfach ohne den derzeit unrealistischen europäischen Bundesstaat nicht verwirklichen?

Wer sich die Europäische Union als globale Macht in einer unsicheren multipolaren Welt wünscht, muss seinen Bürgern reinen Wein einschenken. Das Pfeifen im dunklen Wald wird nicht genügen. Die Europäische Union muss in jeder Hinsicht zu einer „Macht“ werden, in der die Vielfalt seiner Nationen und Kulturen geschätzt wird, aber Interessen und Werte gemeinsam gesichert werden. Dann ist Zuversicht und Optimismus keine Illusion. Der europäische Binnenmarkt umfasst 450 Millionen Menschen sowie 23 Millionen Unternehmen, auf die rund 17 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) entfallen. Und offenbar ist das europäische Lebensmodell weiterhin attraktiv. Kaum jemand wandert selbst in wirtschaftlich erfolgreichen Autokratien ein.