Zum ersten Mal übernimmt eine Frau das Kanzleramt. Nach Umbrüchen in der österreichischen Politik wurde Brigitte Bierlein zur Übergangskanzlerin gemacht. Als Präsidentin des österreichischen Verfassungsgerichtshofs musste sie sich schon oft in Männerdomänen behaupten.
Brigitte Bierlein, geboren 1949, promovierte 1971 als Doktorin der Rechtswissenschaften an der Universität Wien und arbeitete nach erfolgreich absolvierter Richteramtsprüfung 1975 zunächst für zwei Jahre als Richterin am Bezirksgericht Innere Stadt Wien und am Strafbezirksgericht Wien, danach wechselte sie zur Staatsanwaltschaft, wobei sie für allgemeine und politische Strafsachen sowie für Medienstrafsachen zuständig war. Die ersten zwei Jahre dieser Tätigkeit war sie Mitglied der Lebensmittel-Codexkommission.
Später arbeitete sie bei der Oberstaatsanwaltschaft Wien und zeitweilig in der Strafrechtssektion des Bundesministeriums für Justiz, ehe sie 1990 (bis 2002) als erste Frau Generalanwältin in der Generalprokuratur beim Obersten Gerichtshof, der höchsten Staatsanwaltschaft Österreichs, wurde. Im gleichen Jahr (bis 2010) wurde sie auch Prüfungskommissärin in den Prüfungskommissionen für Richter und Rechtsanwälte beim Oberlandesgericht Wien. 1995 wurde sie Vorstandsmitglied der Vereinigung Österreichischer Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, wo sie 2001 als erste Frau den Vorsitz übernahm. Auch war sie von 2001 bis 2004 Mitglied des Vorstandes der Internationalen Vereinigung der Staatsanwälte.
2003 wurde sie als erste Frau Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs, dessen Präsidentschaft sie 2018, nach dem altersbedingten Ausscheiden ihres Vorgängers Gerhart Holzinger, übernahm (natürlich erneut als erste Frau).
Zeit für Kinder blieb ihr, neben ihrem steilen beruflichen Aufstieg, laut eigenen Aussagen keine. Sie lebt jedoch in einer Partnerschaft mit dem bereits pensionierten Richter Ernest Maurer.
Nach dem erfolgreichen Misstrauensantrag gegen den damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz und dessen Regierung wurde Bierlein am 3. Juni 2019 von Bundespräsident Alexander van der Bellen, abermals als erste Frau im Amt, als Bundeskanzlerin der interimistischen Expertenregierung angelobt.
Bierlein ist parteilos, gilt aber als bürgerlich und rechtskonservativ. Kontakte pflegt sie insbesondere zur ÖVP, aber auch zur FPÖ, stand Entscheidungen der türkis-blauen Regierung mitunter aber auch kritisch gegenüber. Während ihrer Zeit bei der Staatsanwaltschaft galt sie als streng, sie wurde als „seriöse, fast josephinische Beamtin“ bezeichnet.
Nun soll sie in Österreich wieder Ordnung schaffen und die derzeit aufgewühlte politische Lage beruhigen. Die Entscheidung Bierlein zur Übergangskanzlerin zu machen, wurde von allen Parteien positiv aufgenommen. Meinungen und Lob über die neue Kanzlerin gibt es viel.
Martina Fasslabend, Präsidentin von MY KIDS, schätzt vor allem ihre unkomplizierte Art und ihre fachliche Expertise. Trotz ihrer tollen Karriere sei sie keine Spur überheblich und sie zeige beeindruckendes Engagement für neue Projekte und Kinderschutz.
Auch der Volksanwalt Dr. Peter Fichtenbauer (FPÖ) sei Bierlein bereits des Öfteren bei offiziellen Anlässen begegnet und ist der Meinung, dass sie eine hervorragende Wahl war. Er äußerte sich außerdem zum Thema Geschlechterverteilung. „Die Sucht nach Geschlechtergerechtigkeit in einem Sinn, der der Sache gar nicht angemessen ist, teile ich nicht; es gilt immer, die beste Person für eine konkrete Situation zu wählen, und das ist in Person von Frau Bierlein absolut gelungen.“
Dr. Heinrich Neisser, ehemaliger 2. Nationalratspräsident (ÖVP), erzählt von den Zeiten, als er Bierlein im Rechtskurs unterrichtete. Sie sei ihm durch ihre wirklich große Begabung, als zielorientierte, konsequente und sachkundige Studentin aufgefallen. „Sie hat ein gutes Gespür dafür, wie weit sie gehen kann, was in der Politik sehr wichtig ist. Hervorzuheben ist, dass sie moralisch integer ist, sie hat eine sehr konsequente, klare und strikte Auffassung von ihrem Amt“ meint Dr. Neisser zudem.
Auch Ingrid Korosec, Bundesvorsitzende im Österreichischen Seniorenbund (ÖVP), lobt Bierlein. „Die neue Bundeskanzlerin ist eine sehr intelligente Frau, die weiß, was sie will. Sie ist genau das, was ich mir für Menschen mit einer gewissen Lebenserfahrung und damit auch mit einem gewissen Alter vorstelle, eine Persönlichkeit, die präsent ist, die großes Selbstbewusstsein ausstrahlt.“
Dr. Harald Wögerbauer, Mitglied des Präsidiums des Europäischen Rechnungshofes a.D. und Präsident des Österreichisch-Deutschen Länderforums, spricht von Bierlein als Grande Dame. Sie sei jedoch sicherlich nicht als „trockene“ Juristin einzuordnen, sondern sei eine fröhliche und gesellige Persönlichkeit. „Bei aller Freundlichkeit weiß sie dennoch, ihren Standpunkt zu vertreten. Ihre Ziele lässt sie niemals aus den Augen und scheut sich nicht, trotz ihrer vielfältigen Aufgaben auch neue zu übernehmen“ erklärt er.
Was keiner von den Befragten zu erwähnen vergisst, ist jedoch das Modebewusstsein der neuen Bundeskanzlerin, mit dem sie schon aus Juristin aufgefallen ist. „Sie weiß genau, wann man was trägt“ versichert dazu Ingrid Korosec.
Die alleinige Kritik die besteht ist, dass es typisch sei, dass eine Frau richten muss, was vorher Männer „zerstört“ haben.
Die Kanzlerschaft Bierleins ist bis spätestens Winter 2019 befristet, denn die im Herbst stattfindenden Neuwahlen in Österreich bedeuten das Ende ihrer kurzen Amtsperiode. Bis dahin jedoch blickt das ganze Land gespannt auf die erste weibliche Bundeskanzlerin.
Fotos: Dragan Tatic/Andy Wenzel/BKA