Anlässlich des virtuellen Neujahrsempfangs hielt Bundespräsident Alexander Van der Bellen eine Rede an den Diplomatischen Corps in Österreich. / On the occasion of the Virtual New Year’s Reception 2021, Federal President Alexander Van der Bellen addressed the Diplomatic Corps resident in Austria. Below, you can read his speech.
Exzellenzen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Diplomatie macht in der COVID-19-Pandemie keine Pause. Umso wichtiger ist in diesen schwierigen Zeiten Ihre Präsenz in Wien und Ihr Engagement für gute bilaterale Beziehungen zwischen Österreich und Ihrem jeweiligen Heimatland.
Daher war es mir ein Anliegen, Ihnen zumindest auf diesem Wege meinen Dank und meine Glückwünsche zum Neuen Jahr zu übermitteln.
Ihnen, Hochwürdigster Herr Apostolischer Nuntius, danke ich herzlich für die Neujahrswünsche, die Sie namens des Diplomatischen Corps überbracht haben.
Nun, im vergangenen Jahr hat die Pandemie unser Leben auf den Kopf gestellt. Wie Sie alle musste auch ich meinen Alltag anpassen: Wir haben es zwar geschafft, trotz allem etliche Besucher persönlich in Österreich zu empfangen, u.a. zur Austrian World Summit Klimakonferenz im September.
Ein Großteil meiner außenpolitischen Tätigkeit hat sich jedoch auf Telefon- und Videogespräche verlagert. Und ich muss Ihnen sagen: Es ist nicht dasselbe. Der persönliche Kontakt, das vertrauliche Vier-Augen-Gespräch, der echte Händedruck fehlen mir sehr.
Die Pandemie ist eine Jahrhundertherausforderung, und sie ist noch nicht überwunden. Auch wenn die Impfungen in vielen Ländern bereits begonnen haben, die sozialen und wirtschaftlichen Folgen werden uns sicher noch einige Zeit begleiten.
Das Virus hat kein Land verschont. Es ist auch eine Herausforderung für das multilaterale System. Das Jahr 2020 hat uns klar vor Augen geführt, wie wichtig internationale Zusammenarbeit ist. So gab es nach einer kurzen Phase der nationalen Alleingänge am Beginn bald ermutigende Zeichen der Solidarität wie koordinierte Rückholaktionen oder die Aufnahme von Patienten aus anderen Ländern in Intensivstationen. Und mit jedem Tag wuchs die Erkenntnis: Die Isolation ist eine Sackgasse. Kein Staat allein kann das Virus besiegen. Es braucht eine Kehrtwendung, wir kommen da nur zusammen durch – und wieder heraus.
Die Europäische Union hat erfolgreich zusammengehalten. In der Forschung, der Produktion und bei der gemeinsamen Beschaffung von Impfstoffen. Und das obwohl Gesundheit eigentlich in der Kompetenz der Nationalstaaten steht. Wir haben bewiesen, dass wir uns nicht von Kompetenzfragen aufhalten lassen, wenn es wirklich darauf ankommt.
Auch auf internationaler Ebene gibt es ein klares Bekenntnis zur Zusammenarbeit im Kampf gegen die Pandemie: Impfstoff soll allgemein verfügbar sein, für alle Länder. Mit der Initiative „Team Europe“ [38 Mrd. Euro] helfen die EU Länder vom Westbalkan bis Afrika, Lateinamerika und Asien, die enormen Auswirkungen der Pandemie zu lindern. Denn die Pandemie trifft die Ärmsten und Verwundbarsten ganz besonders.
Was die EU und der deutsche Ratsvorsitz in den letzten Monaten geleistet haben, ist bemerkenswert: eine historische Entscheidung über die gemeinsame Aufnahme von bis zu 750 Mrd. Euro zur Finanzierung des Wiederaufbaus, ein neuer Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, und ein ehrgeiziges neues Klimaziel bis 2030.
Ein Wermutstropfen ist die nicht gelungene Einigung auf den nächsten Schritt im Heranführungsprozess für Nordmazedonien und Albanien. Daran müssen wir in diesem neuen Jahr zügig weiterarbeiten. Und natürlich der Brexit: Nach Jahren der Unsicherheit haben wir nun zumindest Klarheit.
Meine Damen und Herren!
Österreich, die EU – wir alle! – haben für einige große Fragen einen wichtigen Partner zurückgewonnen: Trotz der langen Weigerung von Präsident Trump, das Ergebnis freier Wahlen zu respektieren, und trotz des von ihm angestachelten Angriffs auf das Kapitol in Washington, wird Joe Biden morgen sein Amt als US-Präsident antreten. Und der neue Präsident hat bereits angekündigt, die internationale Zusammenarbeit wieder stärken und auch dem Pariser Klimaabkommen wieder beitreten zu wollen.
Die Klimakrise ist im vergangenen Jahr durch die Pandemie aus den Schlagzeilen gerutscht. Sie ist aber deswegen nicht verschwunden – im Gegenteil.
Präsident Alexander Van der Bellen
Seit der Unterzeichnung des Pariser Klimaabkommens vor fünf Jahren ist zu wenig passiert. Die Erde wird heißer und heißer. Dazu kommen Waldbrände, auseinanderbrechende Eisberge an den Polkappen, schwere Tropenstürme und Unwetterschäden, zerstörte Landstriche, verheerende Dürren, Millionen Schäden bei unseren Bauern, Hitze in den Städten, etc. etc. Wir stehen vor der größten Herausforderung der Menschheit in diesem Jahrtausend. Einer größeren Herausforderung als jener durch die Pandemie. Und gegen die Klimakrise wird es keine Impfung geben. Da sind wir alle selbst gefordert. Es wird ein Wettlauf mit der Zeit. Aber wir können ihn gewinnen. Wir müssen ihn gewinnen, wollen wir diesen Planeten für uns Menschen gut bewohnbar halten.
Die Jugendbewegung „Fridays for Future“ wird uns weiter antreiben, auf Kurs zu bleiben. Nun gibt es schon „Parents for Future“. Da tut sich was – ungeachtet der teils immer noch vorhandenen Zögerlichkeit der Politik. Was mich positiv stimmt: Auch die Wirtschaft ist mittlerweile an Bord, teilweise geht sie der Politik sogar schon voran. Von den Kunden großer Investmentfonds wird heute weltweit Druck ausgeübt, Geld nachhaltig zu investieren. Das war so vor fünf Jahren nicht denkbar. Beim wirtschaftlichen Wiederaufbau unser aller Länder nach der Pandemie muss die Bewältigung der Klimakrise unser Leitziel, Investitionen müssen entsprechend nachhaltig sein. Das 750 Milliarden-Paket der EU ist hier ein guter Anfang.
Exzellenzen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ein neues Jahr liegt vor uns. Welche Erfahrungen aus der Zeit der Pandemie können wir für die Zeit danach mitnehmen? Das letzte Jahr hat bewiesen, dass wir Menschen zu viel mehr fähig sind, als wir vielleicht dachten, wenn es darauf ankommt. Innerhalb kürzester Zeit wurde ein Impfstoff entwickelt.
Jetzt ist die Zeit, in der wir überlegen sollten, wie wir unsere Welt verbessern können. Für uns, für unsere Kinder, unsere Enkelkinder. Das gilt nicht nur für die Pandemie, sondern auch für die Klimakrise und für unser Zusammenleben – in unseren Gesellschaften, zwischen unseren Ländern oder im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten. Können wir den Trend zur Unversöhnlichkeit und Aggression brechen? Durch Dialog und Zusammenarbeit, intern, bilateral und multilateral, voneinander lernen und miteinander wachsen?
Ein solcher – effektiver – Dialog ist, was wir uns in Belarus wünschen. Es braucht ihn zur Verbesserung der Situation in der Ostukraine. zur Entspannung im östlichen Mittelmeer. In Syrien, Libyen, dem Jemen. In Äthiopien, Afghanistan, Venezuela. Und es braucht ihn zur Rückkehr zum Nuklearübereinkommen mit dem Iran. Jede Situation ist anders, aber überall würde ein Mehr an Gespräch helfen.
Im Nahen Osten ist die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und einer Reihe arabischer Staaten, aber auch zwischen verschiedenen Golfstaaten, ein Schritt in die richtige Richtung – einen solchen brauchen wir aber dringend auch für den Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern.
Und schließlich: Die Abrüstung ist ein Themenfeld des Multilateralismus, dem Österreich traditionell besonders verpflichtet ist. Dabei stehen die menschliche Sicherheit und die Verhinderung unendlichen Leids durch besonders inhumane Waffengattungen an vorderster Stelle.
Mit dem Nuklearwaffenverbotsvertrag haben wir – 75 Jahre nach dem ersten Einsatz von Atomwaffen in Hiroshima und Nagasaki – einen historischen Meilenstein erreicht. Sein Inkrafttreten in diesen Tagen ist ein Erfolg für Österreich und die Welt.
Lassen Sie mich mit einem Appell für Menschlichkeit schließen: In diesem Jahr begehen wir das 70-jährige Bestehen des UNO-Flüchtlingshilfswerks und der Genfer Flüchtlingskonvention. Wir müssen mehr tun, um die Konvention wirksam umzusetzen.
Die Bilder von Kindern in Kälte, Nässe und Dreck im Lager auf Lesbos, aber auch von den im Winter schutzlos ausgesetzten Menschen in Bosnien und Herzegowina, beschämen uns zutiefst. So etwas darf es in Europa nicht geben.
In diesem Zusammenhang hoffe ich, dass es der EU in diesem Jahr endlich gelingt, einen neuen Pakt zu Asyl und Migration zu beschließen. Auch hierbei sollten wir größer denken. Menschlichkeit muss dabei im Vordergrund stehen!
Exzellenzen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Für die Lösung der anstehenden Herausforderungen braucht es mehr denn je: Diplomatie – Sie. Der persönliche Austausch ist durch kein virtuelles Format ersetzbar. Ich bin zuversichtlich, bald können wir wieder zur Normalität unserer Gesprächskultur zurückkehren. Nützen wir alle diese Chance, miteinander zu sprechen und einander zuzuhören.
Und bauen wir unsere Welt ein wichtiges Stückchen besser!
Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien ein gutes neues Jahr, viel Glück und Gesundheit!
Auf ein baldiges Wiedersehen!
Foto: HBF/Peter Lechner