80 Jahre Zweite Republik

Anlässlich des 80-jährigen Jubiläums der Zweiten Republik Österreich hat Diplomatic SOCIETY mit den HistorikerInnen Dr. Siegfried Göllner und Dr. Barbara Sauer über die Auswirkungen der NS-Zeit auf den Auswärtigen Dienst gesprochen.

Herr Dr. Göllner, Sie haben sich u.a. mit der Transformation des österreichischen Auswärtigen Dienstes als Institution und den Rahmenbedingungen für den personellen Umbau in der NS-Zeit und den Umgang mit den Jahren 1938 bis 1945 in der Zweiten Republik beschäftigt. Welche Folgen hatte die Liquidierung des österreichischen Auswärtigen Dienstes 1938 für die Bediensteten?

SG: Der österreichische auswärtige Dienst wurde unmittelbar nach dem „Anschluss“ den Reichsbehörden unterstellt. „Rassisch“ und politisch nicht genehme Personen wurden vom Dienst enthoben, einige leitende Beamte verhaftet. Die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten blieb zunächst weiterhin im Dienst. Das Außenamt selbst, 1938 kein eigenständiges Ministerium, sondern als Sektion IV des Bundeskanzleramtes geführt, wurde der „Dienststelle des Auswärtigen Amtes in Wien“ unterstellt, die aus der Deutsche Gesandtschaft hervorgegangen war. Diese leitete die Liquidation der Geschäfte an, die im Wesentlichen von ehemals österreichischen Beamten umgesetzt wurde. Die bis dahin österreichischen Auslandsvertretungen wurden den jeweiligen deutschen Vertretungen unterstellt. In der Regel verblieb die österreichische Beamtenschaft bis zur vollzogenen Abwicklung, meist bis Sommer 1938, an ihrem Dienstort und wurde anschließend, wenn politisch und „rassisch“ aus Sicht der Nationalsozialisten nichts dagegensprach, zu einem guten Teil vorerst in der deutschen Vertretung weiter beschäftigt. Etwa ein Drittel der höheren Beamten des Ministeriums wurde in den Reichsdienst übernommen, die übrigen wurden in den Behörden des Reichsstatthalters untergebracht oder in den Ruhestand oder den so genannten Wartestand versetzt.

Wie kann man sich das Leben/die Arbeit der Diplomaten in den ersten Wochen nach der Befreiung Wiens von der Nazi-Herrschaft vorstellen? Wie organisierte man sich, was waren die Prioritäten? 

SG: Es war ein hohes Maß an Selbstorganisation und Improvisation nötig. Die erste Versammlung der ehemaligen Beamten des Hauses fand am 16. April 1945 statt, also elf Tage vor der Unabhängigkeitserklärung. Federführend waren Beamte, die schon vor 1938 in leitenden Positionen tätig gewesen waren, nach der Übernahme der Nationalsozialisten aus dem Amt ausscheiden hatten müssen und sich bei Kriegsende in Wien aufhielten, wie Heinrich Wildner und Norbert Bischoff. Man entwarf Geschäftsordnung und Zuständigkeiten, arbeitete daran, tatsächlich wieder zu einer handlungsfähigen Behörde zu werden. Dafür brauchte es Informationen und Kontakte zu den politischen Parteien, zu den Besatzungsmächten und zu ehemaligen Kollegen im In- und Ausland.

Erst 1959 wurde ein eigenständiges Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten gegründet – wie ist man in diesem neuen Ministerium mit der NS-Vergangenheit umgegangen? Was passierte mit jenen Diplomaten, die im Nationalsozialismus verfolgt worden waren?

SG: Zu diesem Zeitpunkt spielte die NS-Vergangenheit bei neu eingestelltem Personal keine Rolle mehr, die rechtlichen Regelungen hierzu waren längst ausgelaufen. Eine Ausnahme bildeten Personen, die Kollegen direkt geschädigt hatten, etwa durch politische Beurteilungen. In diesen – wenigen – Fällen verwehrte sich das Ministerium dauerhaft, diese wieder in Dienst zu setzen. Man muss auch betonen, dass die Entnazifizierung im Staatsamt für Äußeres bis etwa 1947 strikter gehandhabt worden war als in anderen Ministerien. Schon die Übernahme in den Deutschen Dienst war zunächst als Hinderungsgrund für die Wiederaufnahme gesehen worden. Das Staatsamt war darauf bedacht, keinerlei Einsprüche des Alliierten Rates gegen Postenbesetzungen zu provozieren. Ab Mitte 1947 und ganz besonders seit der Minderbelastetenamnestie 1948 wurden auch ehemalige Nationalsozialisten wieder in den Dienst gestellt. Bis dahin reaktivierte man v.a. Personen, die nach dem „Anschluss“ in den Ruhe- oder Wartestand versetzt worden waren. Diplomaten, die die NS-Zeit im Exil überdauern mussten, also v.a. jüdische Diplomaten, hatten es schwerer, wieder Verwendung zu finden, da eine Rückkehr erst verzögert möglich war, die wenigen vorhandenen Posten bereits mit den in Wien verbliebenen Beamten besetzt waren und eine Rückkehr der Verfolgten auch nicht gefördert wurde. Die im Ausland verbliebenen Diplomaten bildeten aber auch die Keimzellen der neu entstehenden Auslandsvertretungen.

Ludwig Kleinwächter

Ludwig Kleinwächter (1882-1973) studierte Jus in Berlin und seiner Geburtsstadt Czernowitz, wo er1909 sub auspiciis Imperatoris promovierte. Ab 1911 im auswärtigen Dienst Österreich-Ungarns, schloss er 1912 die Konsularakademie in Wien ab. Noch im selben Jahr wurde er nach New York entsandt, und war ab 1916 bis zum Kriegseintritt der USA 1917 in Washington tätig. Anschließend arbeitete er in der Zentrale in Wien, unterbrochen durch kürzere Missionen im Zusammenhang mit den Folgen des Ersten Weltkriegs und der Auflösung der k. u. k. Monarchie, wie den Kriegsgefangenen und Zivilinternierten-Angelegenheiten in Petersburg und Kiew oder einer Konferenz der Nachfolgestaaten in Rom 1921. Mit der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zu den USA wurde Kleinwächter 1922 Leiter des Konsulates in Chicago und war 1925 bis 1926 der Gesandtschaft in Washington zugeteilt. Nach drei Jahren Dienst in Wien fungierte er 1930 bis 1931 als Leiter des Generalkonsulats in Ottawa. 1932 nach Wien einberufen, arbeitete er fortan im Bundespressedienst, zu dessen stellvertretendem Leiter er avancierte. Wegen dieser Tätigkeit zählte Kleinwächter zu den ersten nach dem „Anschluss“ Verhafteten, erschwerend kam hinzu, dass er nach nationalsozialistischen Rassengesetzen als „Mischling 1. Grades“ galt. Er wurde mit dem sogenannten Prominententransport bereits am 1. April 1938 in das KZ Dachau deportiert und im September 1938 nach Buchenwald, von wo er im Mai 1939 entlassen wurde. Kurz darauf verhaftete man seine Ehefrau Anna. Das Ehepaar lebte während der NS-Zeit in Wien, er arbeitete in der Privatwirtschaft. Mit 30. April 1945 erfolgte Kleinwächters Reaktivierung im österreichischen auswärtigen Dienst, anfangs als ständiger Vertreter bei der Amerikanischen Delegation der Alliierten Kommission für Österreich. Somit war er zum zweiten Mal in seiner Karriere an der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit den USA beteiligt, im Februar 1946 wurde er Gesandter in Washington und ab Ende 1951 Botschafter. In seine Amtszeit fielen die gesonderten UNRRA- und Marshall-Plan-Hilfen für Österreich sowie das erste Fulbright-Abkommen.

Unter seinen Nachfolgern als Botschafter in Washington war neben Wilfried Platzer auch Kleinwächters Schwiegersohn Karl Herbert Schober.

Frau Dr. Sauer, Sie haben zu den Schicksalen einzelner Diplomaten geforscht – welche persönlichen Geschichten sind Ihnen hier besonders in Erinnerung geblieben? Gibt es einen „roten Faden“, der sich durch die Historie der Personen zieht? Wie war die Quellenlage dazu? 

BS: Unser Forschungsprojekt läuft noch bis Mai 2026, daher kann ich die Frage, wessen Lebenswege mir besonders in Erinnerung geblieben ist, nicht beantworten. Grundsätzlich ist mein Fokus immer eher auf die weniger bekannten, nicht prominenten Betroffenen gerichtet als auf diejenigen, über die schon viel publiziert wurde. Weil ständig neue Quellen zugänglich werden, ist aber auch über Persönlichkeiten wie Bruno Kreisky oder Kurt Waldheim noch Neues herauszufinden. Die Gemeinsamkeit zwischen all diesen Menschen ist der enorme Einschnitt, den der „Anschluss“ und seine Folgen für sie bedeuteten. Das trifft allerdings nicht nur auf Diplomaten zu, sondern etwa auch auf eine Lehrerin oder einen Lokomotivführer.

An Quellen sind an erster Stelle natürlich die Personalakten zu nennen, die fast vollständig erhalten sind. Diese wurden teilweise bereits an das Österreichische Staatsarchiv übergeben, viele befinden sich aber noch im Archiv des Außenministeriums, das nicht öffentlich ist, wir können diesen Bestand aber im Rahmen unseres Projekts einsehen. Welche weiteren Quellen heranzuziehen sind, hängt davon ab, wie die jeweiligen Lebenswege weiter verlaufen sind, etwa Personalakten aus dem deutschen Außenamt, Entnazifizierungsakten oder im Falle der NS-Verfolgten die Anträge an die Opferfürsorge.

Wie viel Widerstand gab es und wie „groß“ waren die individuellen Handlungsspielräume der Diplomaten überhaupt?

BS: In den letzten Jahren wurde in der Geschichtswissenschaft der Begriff des Widerstands oder der widerständigen Handlung kontinuierlich erweitert. Als solches wird heute nicht nur das „mit der Waffe in der Hand ein Regime Bekämpfen“ gesehen. Das macht eine Quantifizierung jedoch schwieriger, weil einerseits viele widerständige Handlungen wohl unentdeckt geblieben sind, andererseits nach Ende der NS-Zeit sehr viele von sich behaupteten, im Widerstand gewesen zu sein, was sich oft nicht überprüfen ließ.

Handlungsspielräume gibt es immer, konkret konnten zum Beispiel Diplomaten, die auf Auslandsposten waren beispielsweise in den Tagen um den „Anschluss“ wie befohlen die Aktenbestände ihrer Vertretungsbehörde an die Diplomaten des Deutschen Reiches übergeben oder diese verschwinden lassen. Eine andere Möglichkeit, sogar mit einer gewissen öffentlich wahrnehmbaren Symbolwirkung, war es, trotz Anordnung aus Wien die Hakenkreuzfahne nicht zu hissen. Schließlich möchte ich noch erwähnen, dass einige österreichische Diplomaten der Einberufung in das Deutsche Reich nicht Folge geleistet haben, und somit zu Exilanten wurden, ohne geflüchtet zu sein.

Wilfried Platzer

Wilfried Platzer (1909-1981) war in der NS-Zeit das, was man gemeinhin einen Mitläufer nennt. Er stand nach dem Studium der Rechtswissenschaften und Absolvierung der Konsularakademie ab 1933 im Dienst des österreichischen auswärtigen Dienstes. 1934 kurzzeitig der Gesandtschaft in Berlin zugeteilt, war er ab 1935 bis zum „Anschluss“ in der handelspolitischen Abteilung des Außenamtes tätig. Am 2. April 1938 wurde er zur Dienstleistung ins Außenministerium nach Berlin berufen und dort der Presseabteilung zugeteilt. Gegen seine Übernahme in den Reichsdienst gab es Vorbehalte von Seiten der Wiener NSDAP, man warf ihm NS-feindliche Aussagen aus dem Jahr 1936 vor. Platzer sei „für den diplomatischen Dienst des Reiches vollkommen ungeeignet und daher vom Standpunkte der NSDAP aus untragbar“, wie es in einer Stellungnahme der Wiener Gauleitung hieß. In Berlin war man mit seinen Diensten jedoch zufrieden und forcierte seine Übernahme. Er sei ein „zuverlässiger gewandter Beamter“, der sich „aus vollster Überzeugung als Glied des deutschen Volkes fühlt und den Weg des Nationalsozialismus eindeutig zu finden gewillt ist.“ Das Ministerium setzte sich durch. Platzer, der 1940 in Berlin der NSDAP beitrat, blieb bis 1945 durchgehend in der Presseabteilung des Reichsaußenministeriums tätig, zuletzt als Referatsleiter.

Das Kriegsende erlebte er in Vorarlberg, wo er schnell in den Dienst der Landesregierung als Verbindungsmann zur französischen Militärregierung eintrat. Sein Wiedereintritt in den österreichischen auswärtigen Dienst erfolgte Mitte 1947, nachdem er von der Entnazifizierungs-Sonderkommission im Bundeskanzleramt trotz seiner NSDAP-Mitgliedschaft für politisch unbedenklich erklärt worden war. Man nahm an, er sei aus beruflichen Gründen rein formal beigetreten, ohne sich mit dem Nationalsozialismus zu identifizieren, was angesichts der dokumentierten Anfeindungen durch die Wiener Gauleitung durchaus plausibel erscheint. Außenminister Karl Gruber setzte sich besonders für seine Wiedereinstellung ein. Platzer avancierte in der Folge 1954 zum Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung, war 1958-65 Botschafter in Washington, von 1967 bis 1970 Generalsekretär im Ministerium und zum Abschluss seiner Karriere 1970-74 Botschafter in London.

Wie lange arbeiten Sie schon an diesem Forschungsprojekt und wie war der Forschungsstand zu dieser Thematik? Wie wichtig ist es Ihrer Meinung nach auch für das Außenministerium, sich seiner Vergangenheit aktiv zu stellen? Welchen Beitrag leistet dieses Forschungsprojekt dazu?

BS: Initiiert wurde das Projekt durch David Schriffl vom Historischen Referat des BMEIA und es wird auch durch das Außenministerium finanziert. Nach einigen Vorarbeiten war der offizielle Projektstart mit Anfang Mai 2023, wir arbeiten also seit etwas mehr als zwei Jahren daran. Meiner Meinung nach ist es für alle Bevölkerungsgruppen enorm wichtig, sich der Vergangenheit zu stellen. Das trifft freilich nicht nur auf die NS-Zeit zu. Derzeit wird zum Beispiel in vielen Ländern – spät genug – mit der Aufarbeitung des Kolonialismus begonnen, was in Österreich eine geringere Rolle spielt. Wie Johan Huizinga bemerkte, ist Geschichte die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt. Somit dienen Projekte wie unseres der Psychohygiene. Um noch ein weiteres Zitat zu diesem Thema anzuführen, diesmal von George Santayana: „Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“

Platzer: Fotocredit: Abbie Rowe. White House Photographs. John F. Kennedy Presidential Library and Museum, Boston

Ludwig Kleinwaechter, Austria’s Minister to the U.S., en route to the White House to present his credentials to President Harry S. Truman, December 4, 1946, ÖNB